Nester der Rohrsänger zwischen Rohrstengeln wie ein Pfahlbau befestigt. Das schwimmende Insel-Nest des Wasserhuhns. Die tollen Flaschenkörbe, die Beutel und Schläuche der Webervögel und Beutelstare, die gleich riesigen Früchten am dünnen Zweig¬ ende, unzugänglich für jeden schwereren kletternden Räuber, zwischen Himmel und Wasser hängen. Bis zu den großartigen schwebenden Heuschobern des afrikanischen Siedelsperlings, die eigentlich nur ein Genossenschaftshaus darstellen, unter dessen sicherem Gesamtdach jetzt erst wieder viele hunderte von Einzel¬ nestchen ruhen.
Nicht die äußere ornamentale Schönheit packt hier, so niedlich und sauber oft die Baukunst anmutet. Aber etwas anderes packt diesmal überwältigend: die Achtung vor dem Gehirn dieser lustigen Schar, vor diesem kleinen Organ unter dem dünnen Schädelchen, das du als Schlemmer beim Krammets¬ vogel als besonderen Leckerbissen dir herausklaubst, ohne eine Ahnung zu besitzen, welche feine Geisteswerkstatt da zwischen deinen Zähnen zergeht.
Ich will in diesem Augenblick garnicht an die tiefere Frage rühren, wie der erste Siedelsperling oder Schneidervogel auf seine wunderbare Art des Nestbaues geraten ist. Ich will annehmen, daß durch einen geheimnisvoll vererbten Instinkt (wir wissen thatsächlich über diese Vererbung ihrem Wesen nach eigentlich gar nichts, als daß wir ein Wort uns gebildet haben, um etwas Dunkles zu kennzeichnen) jeder Vogel, der heute geboren wird, bereits ein allgemeines Bild seiner Nest¬ form mit auf den Weg bekommt.
Was ich aber auch dann immer von neuem bewundern muß, ist die geradezu überwältigende individuelle Leistung nun doch wieder jedes Einzelvogels, dieses Nest nun für seinen Fall in Wirklichkeit herzustellen.
Immer und immer wieder sind ja die äußeren Bedingungen etwas anders, immer und immer wieder muß der Nestbau gerade diesem Ast, gerade diesen Rohrstengeln in dieser indivi¬
Neſter der Rohrſänger zwiſchen Rohrſtengeln wie ein Pfahlbau befeſtigt. Das ſchwimmende Inſel-Neſt des Waſſerhuhns. Die tollen Flaſchenkörbe, die Beutel und Schläuche der Webervögel und Beutelſtare, die gleich rieſigen Früchten am dünnen Zweig¬ ende, unzugänglich für jeden ſchwereren kletternden Räuber, zwiſchen Himmel und Waſſer hängen. Bis zu den großartigen ſchwebenden Heuſchobern des afrikaniſchen Siedelſperlings, die eigentlich nur ein Genoſſenſchaftshaus darſtellen, unter deſſen ſicherem Geſamtdach jetzt erſt wieder viele hunderte von Einzel¬ neſtchen ruhen.
Nicht die äußere ornamentale Schönheit packt hier, ſo niedlich und ſauber oft die Baukunſt anmutet. Aber etwas anderes packt diesmal überwältigend: die Achtung vor dem Gehirn dieſer luſtigen Schar, vor dieſem kleinen Organ unter dem dünnen Schädelchen, das du als Schlemmer beim Krammets¬ vogel als beſonderen Leckerbiſſen dir herausklaubſt, ohne eine Ahnung zu beſitzen, welche feine Geiſteswerkſtatt da zwiſchen deinen Zähnen zergeht.
Ich will in dieſem Augenblick garnicht an die tiefere Frage rühren, wie der erſte Siedelſperling oder Schneidervogel auf ſeine wunderbare Art des Neſtbaues geraten iſt. Ich will annehmen, daß durch einen geheimnisvoll vererbten Inſtinkt (wir wiſſen thatſächlich über dieſe Vererbung ihrem Weſen nach eigentlich gar nichts, als daß wir ein Wort uns gebildet haben, um etwas Dunkles zu kennzeichnen) jeder Vogel, der heute geboren wird, bereits ein allgemeines Bild ſeiner Neſt¬ form mit auf den Weg bekommt.
Was ich aber auch dann immer von neuem bewundern muß, iſt die geradezu überwältigende individuelle Leiſtung nun doch wieder jedes Einzelvogels, dieſes Neſt nun für ſeinen Fall in Wirklichkeit herzuſtellen.
Immer und immer wieder ſind ja die äußeren Bedingungen etwas anders, immer und immer wieder muß der Neſtbau gerade dieſem Aſt, gerade dieſen Rohrſtengeln in dieſer indivi¬
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Neſter der Rohrſänger zwiſchen Rohrſtengeln wie ein Pfahlbau
befeſtigt. Das ſchwimmende Inſel-Neſt des Waſſerhuhns. Die
tollen Flaſchenkörbe, die Beutel und Schläuche der Webervögel
und Beutelſtare, die gleich rieſigen Früchten am dünnen Zweig¬
ende, unzugänglich für jeden ſchwereren kletternden Räuber,
zwiſchen Himmel und Waſſer hängen. Bis zu den großartigen
ſchwebenden Heuſchobern des afrikaniſchen Siedelſperlings, die
eigentlich nur ein Genoſſenſchaftshaus darſtellen, unter deſſen
ſicherem Geſamtdach jetzt erſt wieder viele hunderte von Einzel¬
neſtchen ruhen.
Nicht die äußere ornamentale Schönheit packt hier, ſo
niedlich und ſauber oft die Baukunſt anmutet. Aber etwas
anderes packt diesmal überwältigend: die Achtung vor dem
Gehirn dieſer luſtigen Schar, vor dieſem kleinen Organ unter
dem dünnen Schädelchen, das du als Schlemmer beim Krammets¬
vogel als beſonderen Leckerbiſſen dir herausklaubſt, ohne eine
Ahnung zu beſitzen, welche feine Geiſteswerkſtatt da zwiſchen
deinen Zähnen zergeht.
Ich will in dieſem Augenblick garnicht an die tiefere
Frage rühren, wie der erſte Siedelſperling oder Schneidervogel
auf ſeine wunderbare Art des Neſtbaues geraten iſt. Ich will
annehmen, daß durch einen geheimnisvoll vererbten Inſtinkt
(wir wiſſen thatſächlich über dieſe Vererbung ihrem Weſen
nach eigentlich gar nichts, als daß wir ein Wort uns gebildet
haben, um etwas Dunkles zu kennzeichnen) jeder Vogel, der
heute geboren wird, bereits ein allgemeines Bild ſeiner Neſt¬
form mit auf den Weg bekommt.
Was ich aber auch dann immer von neuem bewundern
muß, iſt die geradezu überwältigende individuelle Leiſtung
nun doch wieder jedes Einzelvogels, dieſes Neſt nun für
ſeinen Fall in Wirklichkeit herzuſtellen.
Immer und immer wieder ſind ja die äußeren Bedingungen
etwas anders, immer und immer wieder muß der Neſtbau
gerade dieſem Aſt, gerade dieſen Rohrſtengeln in dieſer indivi¬
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/368>, abgerufen am 22.11.2024.
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