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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Man muß notwendig einen Augenblick überlegen.

Und es scheint so, als wenn du zunächst zweierlei gänzlich
verschiedene Dinge von einander trennen müßtest.

Hier steht die Madonna Rafaels oder sonst ein köstliches
Gemälde der Dresdner Gallerie. Und ich schaue sie an und
sage: das ist schön.

Ich sage es, ich von meinem menschlichen Empfinden aus.
Ich empfinde das als "schön". Dabei bin ich mir einer Sache
unbedingt gewiß.

Jener Maler, Rafael, der das Bild geschaffen, war ein
Mensch wie ich. Uns trennen Jahrhunderte, aber im Bereich
künstlerischen Empfindens ist das eine kurze Frist. Phidias er¬
greift mich ebenso noch heute, und der ist über zweitausend
Jahre älter. Also das fällt fort. Rafael war ein Genie als
Maler, was ich nicht bin. Darauf beruht eben seine Kraft,
Bilder so nach außen zu projizieren, daß ich heute noch in
stiller Andacht davor stehe. Aber auch das berührt nicht die
Grundthatsache.

Er war ein Mensch. Ich bin einer. Er hatte Schön¬
heitsempfindungen und zwar unbedingt in der Wurzel ähnliche
wie ich. Seine persönliche Kraft beruhte nur darin, diese
Empfindungen "schaffend" zu verwerten. Er "schuf" und ich
staune. Aber in Wahrheit kehrt nur das menschliche Schön¬
heitsempfinden, das im Kern auch in mir steckt, auf dem Um¬
weg über seine Meisterschaft zu mir zurück.

Und indem ich vor seiner gemalten Madonna alle Tiefen
meines Schönheitsempfindens aufgerissen und mit strahlenden
Bildern belebt sehe, empfinde ich mich im tiefsten Wesen doch
nur selbst. Rafael empfand "schön". Ich empfinde "schön".
Er schuf auf Grund seines Empfindens "schön". Ich empfinde
sein Geschaffenes abermals als "schön". Das ist eine einfache
Linie, nicht wahr?

Sie kommt vom Menschen und geht zum Menschen. Es
schiebt sich ein bißchen Vergangenheit hinein, aber sie wird

Man muß notwendig einen Augenblick überlegen.

Und es ſcheint ſo, als wenn du zunächſt zweierlei gänzlich
verſchiedene Dinge von einander trennen müßteſt.

Hier ſteht die Madonna Rafaels oder ſonſt ein köſtliches
Gemälde der Dresdner Gallerie. Und ich ſchaue ſie an und
ſage: das iſt ſchön.

Ich ſage es, ich von meinem menſchlichen Empfinden aus.
Ich empfinde das als „ſchön“. Dabei bin ich mir einer Sache
unbedingt gewiß.

Jener Maler, Rafael, der das Bild geſchaffen, war ein
Menſch wie ich. Uns trennen Jahrhunderte, aber im Bereich
künſtleriſchen Empfindens iſt das eine kurze Friſt. Phidias er¬
greift mich ebenſo noch heute, und der iſt über zweitauſend
Jahre älter. Alſo das fällt fort. Rafael war ein Genie als
Maler, was ich nicht bin. Darauf beruht eben ſeine Kraft,
Bilder ſo nach außen zu projizieren, daß ich heute noch in
ſtiller Andacht davor ſtehe. Aber auch das berührt nicht die
Grundthatſache.

Er war ein Menſch. Ich bin einer. Er hatte Schön¬
heitsempfindungen und zwar unbedingt in der Wurzel ähnliche
wie ich. Seine perſönliche Kraft beruhte nur darin, dieſe
Empfindungen „ſchaffend“ zu verwerten. Er „ſchuf“ und ich
ſtaune. Aber in Wahrheit kehrt nur das menſchliche Schön¬
heitsempfinden, das im Kern auch in mir ſteckt, auf dem Um¬
weg über ſeine Meiſterſchaft zu mir zurück.

Und indem ich vor ſeiner gemalten Madonna alle Tiefen
meines Schönheitsempfindens aufgeriſſen und mit ſtrahlenden
Bildern belebt ſehe, empfinde ich mich im tiefſten Weſen doch
nur ſelbſt. Rafael empfand „ſchön“. Ich empfinde „ſchön“.
Er ſchuf auf Grund ſeines Empfindens „ſchön“. Ich empfinde
ſein Geſchaffenes abermals als „ſchön“. Das iſt eine einfache
Linie, nicht wahr?

Sie kommt vom Menſchen und geht zum Menſchen. Es
ſchiebt ſich ein bißchen Vergangenheit hinein, aber ſie wird

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[349/0365] Man muß notwendig einen Augenblick überlegen. Und es ſcheint ſo, als wenn du zunächſt zweierlei gänzlich verſchiedene Dinge von einander trennen müßteſt. Hier ſteht die Madonna Rafaels oder ſonſt ein köſtliches Gemälde der Dresdner Gallerie. Und ich ſchaue ſie an und ſage: das iſt ſchön. Ich ſage es, ich von meinem menſchlichen Empfinden aus. Ich empfinde das als „ſchön“. Dabei bin ich mir einer Sache unbedingt gewiß. Jener Maler, Rafael, der das Bild geſchaffen, war ein Menſch wie ich. Uns trennen Jahrhunderte, aber im Bereich künſtleriſchen Empfindens iſt das eine kurze Friſt. Phidias er¬ greift mich ebenſo noch heute, und der iſt über zweitauſend Jahre älter. Alſo das fällt fort. Rafael war ein Genie als Maler, was ich nicht bin. Darauf beruht eben ſeine Kraft, Bilder ſo nach außen zu projizieren, daß ich heute noch in ſtiller Andacht davor ſtehe. Aber auch das berührt nicht die Grundthatſache. Er war ein Menſch. Ich bin einer. Er hatte Schön¬ heitsempfindungen und zwar unbedingt in der Wurzel ähnliche wie ich. Seine perſönliche Kraft beruhte nur darin, dieſe Empfindungen „ſchaffend“ zu verwerten. Er „ſchuf“ und ich ſtaune. Aber in Wahrheit kehrt nur das menſchliche Schön¬ heitsempfinden, das im Kern auch in mir ſteckt, auf dem Um¬ weg über ſeine Meiſterſchaft zu mir zurück. Und indem ich vor ſeiner gemalten Madonna alle Tiefen meines Schönheitsempfindens aufgeriſſen und mit ſtrahlenden Bildern belebt ſehe, empfinde ich mich im tiefſten Weſen doch nur ſelbſt. Rafael empfand „ſchön“. Ich empfinde „ſchön“. Er ſchuf auf Grund ſeines Empfindens „ſchön“. Ich empfinde ſein Geſchaffenes abermals als „ſchön“. Das iſt eine einfache Linie, nicht wahr? Sie kommt vom Menſchen und geht zum Menſchen. Es ſchiebt ſich ein bißchen Vergangenheit hinein, aber ſie wird

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/365>, abgerufen am 22.11.2024.