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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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zu thun haben. Sind meine Armnerven durchschnitten, so
kann ich in die Hand piken soviel ich will: es kommt keine
Schmerzempfindung bei mir mehr zustande. Ich schließe also
abermals, daß nun auch diese Nervensubstanz überall, wo sie
besteht, einen Wahrscheinlichkeitsschluß auf Empfindung zuläßt.
Solche Nervensubstanz hat aber die Kuckucksuhr ganz und gar
nicht, -- wohl aber hat sie der Kuckuck.

Jetzt dieser Kuckuck jedoch ist immer noch ein sehr hohes,
mir nahe stehendes Tier. Ich will aber tiefer hinab mit
meiner Empfindungsfrage in die Welt des Lebendigen. Und
abermals häufen sich Schwierigkeiten. Ich komme zu niedrigen
Tieren herab, wo der Nervenapparat sich mehr und mehr auf¬
löst im Gesamtleibe, bis er endlich völlig darin verschwindet.
Zugleich werden die Symptome des Au-Schreiens immer dünner
und zweifelhafter. Bei der Pflanze vollends fangen die letzten
Analogieschlüsse dieser Art an ganz ins Blau zu geraten. Ich
mag aber hier noch eine Hilfe nehmen und die Empfindung
jetzt ganz allgemein an die lebendige Substanz, an das Leben
überhaupt knüpfen. Ich empfinde, weil ich lebe, sage ich mir,
und also wird alles, was lebt, auch empfinden.

Indessen das Leben wandert selber hinab in das Grenz¬
violett zum sogenannten Anorganischen, wenn wir streng bei
der Stange bleiben wollen. In einem gewissen Moment
meines Zuendedenkens und Zuendeanalogisierens sage ich mir,
ob Empfindung nicht vielleicht eine Grundeigenschaft aller
Materie sein könne. Das ganze "Sein" erscheint mir nur
als ein anderer Ausdruck für "Selbsterleben". Ein Selbst¬
erlebnis setzt aber allemal eine Empfindung voraus. Das
Ding, das nichts empfindet, kann auch nichts erleben.

Es fragt sich jetzt nur noch, ob ich diese Empfindungs¬
fähigkeit bloß jedem winzigsten Teilchen einer atomistisch zer¬
splitterten Materie zuerkennen will. Oder auch verwickelteren,
aus solchen Atomen aufgebauten Systemen. Ich sehe wieder
auf mich, und es kann mir wahrscheinlich vorkommen, daß in

zu thun haben. Sind meine Armnerven durchſchnitten, ſo
kann ich in die Hand piken ſoviel ich will: es kommt keine
Schmerzempfindung bei mir mehr zuſtande. Ich ſchließe alſo
abermals, daß nun auch dieſe Nervenſubſtanz überall, wo ſie
beſteht, einen Wahrſcheinlichkeitsſchluß auf Empfindung zuläßt.
Solche Nervenſubſtanz hat aber die Kuckucksuhr ganz und gar
nicht, — wohl aber hat ſie der Kuckuck.

Jetzt dieſer Kuckuck jedoch iſt immer noch ein ſehr hohes,
mir nahe ſtehendes Tier. Ich will aber tiefer hinab mit
meiner Empfindungsfrage in die Welt des Lebendigen. Und
abermals häufen ſich Schwierigkeiten. Ich komme zu niedrigen
Tieren herab, wo der Nervenapparat ſich mehr und mehr auf¬
löſt im Geſamtleibe, bis er endlich völlig darin verſchwindet.
Zugleich werden die Symptome des Au-Schreiens immer dünner
und zweifelhafter. Bei der Pflanze vollends fangen die letzten
Analogieſchlüſſe dieſer Art an ganz ins Blau zu geraten. Ich
mag aber hier noch eine Hilfe nehmen und die Empfindung
jetzt ganz allgemein an die lebendige Subſtanz, an das Leben
überhaupt knüpfen. Ich empfinde, weil ich lebe, ſage ich mir,
und alſo wird alles, was lebt, auch empfinden.

Indeſſen das Leben wandert ſelber hinab in das Grenz¬
violett zum ſogenannten Anorganiſchen, wenn wir ſtreng bei
der Stange bleiben wollen. In einem gewiſſen Moment
meines Zuendedenkens und Zuendeanalogiſierens ſage ich mir,
ob Empfindung nicht vielleicht eine Grundeigenſchaft aller
Materie ſein könne. Das ganze „Sein“ erſcheint mir nur
als ein anderer Ausdruck für „Selbſterleben“. Ein Selbſt¬
erlebnis ſetzt aber allemal eine Empfindung voraus. Das
Ding, das nichts empfindet, kann auch nichts erleben.

Es fragt ſich jetzt nur noch, ob ich dieſe Empfindungs¬
fähigkeit bloß jedem winzigſten Teilchen einer atomiſtiſch zer¬
ſplitterten Materie zuerkennen will. Oder auch verwickelteren,
aus ſolchen Atomen aufgebauten Syſtemen. Ich ſehe wieder
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[295/0311] zu thun haben. Sind meine Armnerven durchſchnitten, ſo kann ich in die Hand piken ſoviel ich will: es kommt keine Schmerzempfindung bei mir mehr zuſtande. Ich ſchließe alſo abermals, daß nun auch dieſe Nervenſubſtanz überall, wo ſie beſteht, einen Wahrſcheinlichkeitsſchluß auf Empfindung zuläßt. Solche Nervenſubſtanz hat aber die Kuckucksuhr ganz und gar nicht, — wohl aber hat ſie der Kuckuck. Jetzt dieſer Kuckuck jedoch iſt immer noch ein ſehr hohes, mir nahe ſtehendes Tier. Ich will aber tiefer hinab mit meiner Empfindungsfrage in die Welt des Lebendigen. Und abermals häufen ſich Schwierigkeiten. Ich komme zu niedrigen Tieren herab, wo der Nervenapparat ſich mehr und mehr auf¬ löſt im Geſamtleibe, bis er endlich völlig darin verſchwindet. Zugleich werden die Symptome des Au-Schreiens immer dünner und zweifelhafter. Bei der Pflanze vollends fangen die letzten Analogieſchlüſſe dieſer Art an ganz ins Blau zu geraten. Ich mag aber hier noch eine Hilfe nehmen und die Empfindung jetzt ganz allgemein an die lebendige Subſtanz, an das Leben überhaupt knüpfen. Ich empfinde, weil ich lebe, ſage ich mir, und alſo wird alles, was lebt, auch empfinden. Indeſſen das Leben wandert ſelber hinab in das Grenz¬ violett zum ſogenannten Anorganiſchen, wenn wir ſtreng bei der Stange bleiben wollen. In einem gewiſſen Moment meines Zuendedenkens und Zuendeanalogiſierens ſage ich mir, ob Empfindung nicht vielleicht eine Grundeigenſchaft aller Materie ſein könne. Das ganze „Sein“ erſcheint mir nur als ein anderer Ausdruck für „Selbſterleben“. Ein Selbſt¬ erlebnis ſetzt aber allemal eine Empfindung voraus. Das Ding, das nichts empfindet, kann auch nichts erleben. Es fragt ſich jetzt nur noch, ob ich dieſe Empfindungs¬ fähigkeit bloß jedem winzigſten Teilchen einer atomiſtiſch zer¬ ſplitterten Materie zuerkennen will. Oder auch verwickelteren, aus ſolchen Atomen aufgebauten Syſtemen. Ich ſehe wieder auf mich, und es kann mir wahrſcheinlich vorkommen, daß in

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/311>, abgerufen am 22.11.2024.