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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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begreiflichen, aber darum niemals vor der Logik gerechtfertigten
Mißverständnis müssen wir endlich einmal aufräumen.

Das Mene Tekel flammt wahrlich hell genug, wenn dieses
Mißverstehen uns den Anblick unseres eigenen herrlichen Körpers
verkürzen, die Kerkerwand gleichsam schon über ihn hinweg¬
ziehen will; und wenn vollends gar die ideale Auferstehung
dieses Körpers in der Kunst Ketten und Narrenmützen er¬
halten soll, Fluchmale des Hexenspuks und der Unanständig¬
keit. Wenn das marmorne Mannesglied einer ewigen Schöpfung
Michelangelos nicht mehr mit reinem Auge gesehen werden
darf, so frage ich mich, ob man nicht auch das liebliche Kind¬
lein auf dem Arm der Mutter als unsittlich verbergen und
auf tausend unsterblichen Werken übermalen müßte. Denn
das Symbol des Liebesaktes steckt in ihm genau so gut wie
in dem Mannesgliede. Wenn du aber das Kind bedeckt und
die Mutter bis über die Brüste in formlose Gewandung ver¬
hüllt hast, so mußt du endlich auch über ihr Antlitz, ihr Haupt
einen letzten Schleier ziehen. Denn auch das Auge ist, wie
wir früher besprochen, in seiner Art ein Geschlechtsglied. Das
Frauenhaar hat tiefe Geschlechtszusammenhänge, von denen wir
noch reden werden. Verhüllen mußt du die Blumen, die auf
Botticellis liebliche Göttin niederregnen, weil sie Zeugungs¬
glieder sind. Auslöschen mußt du die goldene Sonne, denn sie
ist ohne jede Frage das allgewaltige Mannesglied unseres
Planetensystems, das mit der Feuchte des Erdenballes dich
und alles Leben seit Urbeginn der Tage gezeugt hat. Sollen
die Symbole fallen, so fällt zuletzt die Welt.

Aber das wird selber einstürzen wie der Koloß auf
thönernen Füßen, und wenn nicht alle Zeichen trügen, so leben
wir schon mitten im Anfang des Endes.

Ich glaube an eine Zukunftsepoche einer idealen Reha¬
bilitierung des heute sogenannten geschlechtlich Unanständigen
überhaupt. Ja ich erwarte diese Epoche inmitten aller Krisen
eines Feigenblatts-Fanatismus mit immer stärkerer Zuversicht

begreiflichen, aber darum niemals vor der Logik gerechtfertigten
Mißverſtändnis müſſen wir endlich einmal aufräumen.

Das Mene Tekel flammt wahrlich hell genug, wenn dieſes
Mißverſtehen uns den Anblick unſeres eigenen herrlichen Körpers
verkürzen, die Kerkerwand gleichſam ſchon über ihn hinweg¬
ziehen will; und wenn vollends gar die ideale Auferſtehung
dieſes Körpers in der Kunſt Ketten und Narrenmützen er¬
halten ſoll, Fluchmale des Hexenſpuks und der Unanſtändig¬
keit. Wenn das marmorne Mannesglied einer ewigen Schöpfung
Michelangelos nicht mehr mit reinem Auge geſehen werden
darf, ſo frage ich mich, ob man nicht auch das liebliche Kind¬
lein auf dem Arm der Mutter als unſittlich verbergen und
auf tauſend unſterblichen Werken übermalen müßte. Denn
das Symbol des Liebesaktes ſteckt in ihm genau ſo gut wie
in dem Mannesgliede. Wenn du aber das Kind bedeckt und
die Mutter bis über die Brüſte in formloſe Gewandung ver¬
hüllt haſt, ſo mußt du endlich auch über ihr Antlitz, ihr Haupt
einen letzten Schleier ziehen. Denn auch das Auge iſt, wie
wir früher beſprochen, in ſeiner Art ein Geſchlechtsglied. Das
Frauenhaar hat tiefe Geſchlechtszuſammenhänge, von denen wir
noch reden werden. Verhüllen mußt du die Blumen, die auf
Botticellis liebliche Göttin niederregnen, weil ſie Zeugungs¬
glieder ſind. Auslöſchen mußt du die goldene Sonne, denn ſie
iſt ohne jede Frage das allgewaltige Mannesglied unſeres
Planetenſyſtems, das mit der Feuchte des Erdenballes dich
und alles Leben ſeit Urbeginn der Tage gezeugt hat. Sollen
die Symbole fallen, ſo fällt zuletzt die Welt.

Aber das wird ſelber einſtürzen wie der Koloß auf
thönernen Füßen, und wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo leben
wir ſchon mitten im Anfang des Endes.

Ich glaube an eine Zukunftsepoche einer idealen Reha¬
bilitierung des heute ſogenannten geſchlechtlich Unanſtändigen
überhaupt. Ja ich erwarte dieſe Epoche inmitten aller Kriſen
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[267/0283] begreiflichen, aber darum niemals vor der Logik gerechtfertigten Mißverſtändnis müſſen wir endlich einmal aufräumen. Das Mene Tekel flammt wahrlich hell genug, wenn dieſes Mißverſtehen uns den Anblick unſeres eigenen herrlichen Körpers verkürzen, die Kerkerwand gleichſam ſchon über ihn hinweg¬ ziehen will; und wenn vollends gar die ideale Auferſtehung dieſes Körpers in der Kunſt Ketten und Narrenmützen er¬ halten ſoll, Fluchmale des Hexenſpuks und der Unanſtändig¬ keit. Wenn das marmorne Mannesglied einer ewigen Schöpfung Michelangelos nicht mehr mit reinem Auge geſehen werden darf, ſo frage ich mich, ob man nicht auch das liebliche Kind¬ lein auf dem Arm der Mutter als unſittlich verbergen und auf tauſend unſterblichen Werken übermalen müßte. Denn das Symbol des Liebesaktes ſteckt in ihm genau ſo gut wie in dem Mannesgliede. Wenn du aber das Kind bedeckt und die Mutter bis über die Brüſte in formloſe Gewandung ver¬ hüllt haſt, ſo mußt du endlich auch über ihr Antlitz, ihr Haupt einen letzten Schleier ziehen. Denn auch das Auge iſt, wie wir früher beſprochen, in ſeiner Art ein Geſchlechtsglied. Das Frauenhaar hat tiefe Geſchlechtszuſammenhänge, von denen wir noch reden werden. Verhüllen mußt du die Blumen, die auf Botticellis liebliche Göttin niederregnen, weil ſie Zeugungs¬ glieder ſind. Auslöſchen mußt du die goldene Sonne, denn ſie iſt ohne jede Frage das allgewaltige Mannesglied unſeres Planetenſyſtems, das mit der Feuchte des Erdenballes dich und alles Leben ſeit Urbeginn der Tage gezeugt hat. Sollen die Symbole fallen, ſo fällt zuletzt die Welt. Aber das wird ſelber einſtürzen wie der Koloß auf thönernen Füßen, und wenn nicht alle Zeichen trügen, ſo leben wir ſchon mitten im Anfang des Endes. Ich glaube an eine Zukunftsepoche einer idealen Reha¬ bilitierung des heute ſogenannten geſchlechtlich Unanſtändigen überhaupt. Ja ich erwarte dieſe Epoche inmitten aller Kriſen eines Feigenblatts-Fanatismus mit immer ſtärkerer Zuverſicht

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/283>, abgerufen am 22.11.2024.