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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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lichen Blase wimmelten die Menschen als Maden und Mistkäfer,
die ihre Löcher in den Moder treiben.

Sehr viel anders ist es nun von der nötigen Perspektive
aus mit dem Urin zunächst auch nicht.

[Abbildung]

Ich denke, daß du eine ungefähre Vorstellung hast, was
dein Urin jenseits von Gut und Böse ist.

Lebendes Wesen, wie du als Mensch es bist, hast du als
Gesetz deines Daseins in dir: Du mußt dich unablässig durch
diese Welt durchfressen, solange du lebst. Wohl behauptet sich
geheimnisvoll eine selbständige Individualität in dir. Aber
diese Individualität ist gleichzeitig in eine Art Schraube ge¬
sperrt: sie muß sich zeitlich so vorwärts bewegen, daß sie sich
fort und fort durchschrauben muß durch soundsoviel Bestandteile
anderer, fremder Individualitäten. Sie nimmt diese Bestand¬
teile in sich, sie gehen räumlich durch sie hindurch. Gewisse
Teile passen ihr in ihren Bau, bleiben bei ihr, werden "sie
selbst", -- die anderen gehen ganz durch, fallen nachträglich
wieder ab, schwinden hinter ihr wieder hinaus. Vom ersten
Tage deines Lebens an geht das so. Du stopfst und stopfst
fremde Welt in dich. Alle Sorten solcher Welt. Luft, Wasser,
Tierisches, Pflanzliches. Die Atmosphäre, in der du schwimmst;
die flüssige Ehe von Sauerstoff und Wasserstoff; uralte Onkel
von dir, die Pflanzen; deine Ahnen und Vettern, die Tiere.
Wie eine unablässig wühlende Made, vor dir der Käseberg,
in den du eine Bresche gräbst, -- und hinter dir eine endlose
Spur von Durchgewürgtem, Wiederabgestoßenem, Verdautem.

In drei Formen nimmst du das Fremde auf: fest, flüssig,
luftförmig. In den drei Formen reißt es sich auch wieder

lichen Blaſe wimmelten die Menſchen als Maden und Miſtkäfer,
die ihre Löcher in den Moder treiben.

Sehr viel anders iſt es nun von der nötigen Perſpektive
aus mit dem Urin zunächſt auch nicht.

[Abbildung]

Ich denke, daß du eine ungefähre Vorſtellung haſt, was
dein Urin jenſeits von Gut und Böſe iſt.

Lebendes Weſen, wie du als Menſch es biſt, haſt du als
Geſetz deines Daſeins in dir: Du mußt dich unabläſſig durch
dieſe Welt durchfreſſen, ſolange du lebſt. Wohl behauptet ſich
geheimnisvoll eine ſelbſtändige Individualität in dir. Aber
dieſe Individualität iſt gleichzeitig in eine Art Schraube ge¬
ſperrt: ſie muß ſich zeitlich ſo vorwärts bewegen, daß ſie ſich
fort und fort durchſchrauben muß durch ſoundſoviel Beſtandteile
anderer, fremder Individualitäten. Sie nimmt dieſe Beſtand¬
teile in ſich, ſie gehen räumlich durch ſie hindurch. Gewiſſe
Teile paſſen ihr in ihren Bau, bleiben bei ihr, werden „ſie
ſelbſt“, — die anderen gehen ganz durch, fallen nachträglich
wieder ab, ſchwinden hinter ihr wieder hinaus. Vom erſten
Tage deines Lebens an geht das ſo. Du ſtopfſt und ſtopfſt
fremde Welt in dich. Alle Sorten ſolcher Welt. Luft, Waſſer,
Tieriſches, Pflanzliches. Die Atmoſphäre, in der du ſchwimmſt;
die flüſſige Ehe von Sauerſtoff und Waſſerſtoff; uralte Onkel
von dir, die Pflanzen; deine Ahnen und Vettern, die Tiere.
Wie eine unabläſſig wühlende Made, vor dir der Käſeberg,
in den du eine Breſche gräbſt, — und hinter dir eine endloſe
Spur von Durchgewürgtem, Wiederabgeſtoßenem, Verdautem.

In drei Formen nimmſt du das Fremde auf: feſt, flüſſig,
luftförmig. In den drei Formen reißt es ſich auch wieder

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[242/0258] lichen Blaſe wimmelten die Menſchen als Maden und Miſtkäfer, die ihre Löcher in den Moder treiben. Sehr viel anders iſt es nun von der nötigen Perſpektive aus mit dem Urin zunächſt auch nicht. [Abbildung] Ich denke, daß du eine ungefähre Vorſtellung haſt, was dein Urin jenſeits von Gut und Böſe iſt. Lebendes Weſen, wie du als Menſch es biſt, haſt du als Geſetz deines Daſeins in dir: Du mußt dich unabläſſig durch dieſe Welt durchfreſſen, ſolange du lebſt. Wohl behauptet ſich geheimnisvoll eine ſelbſtändige Individualität in dir. Aber dieſe Individualität iſt gleichzeitig in eine Art Schraube ge¬ ſperrt: ſie muß ſich zeitlich ſo vorwärts bewegen, daß ſie ſich fort und fort durchſchrauben muß durch ſoundſoviel Beſtandteile anderer, fremder Individualitäten. Sie nimmt dieſe Beſtand¬ teile in ſich, ſie gehen räumlich durch ſie hindurch. Gewiſſe Teile paſſen ihr in ihren Bau, bleiben bei ihr, werden „ſie ſelbſt“, — die anderen gehen ganz durch, fallen nachträglich wieder ab, ſchwinden hinter ihr wieder hinaus. Vom erſten Tage deines Lebens an geht das ſo. Du ſtopfſt und ſtopfſt fremde Welt in dich. Alle Sorten ſolcher Welt. Luft, Waſſer, Tieriſches, Pflanzliches. Die Atmoſphäre, in der du ſchwimmſt; die flüſſige Ehe von Sauerſtoff und Waſſerſtoff; uralte Onkel von dir, die Pflanzen; deine Ahnen und Vettern, die Tiere. Wie eine unabläſſig wühlende Made, vor dir der Käſeberg, in den du eine Breſche gräbſt, — und hinter dir eine endloſe Spur von Durchgewürgtem, Wiederabgeſtoßenem, Verdautem. In drei Formen nimmſt du das Fremde auf: feſt, flüſſig, luftförmig. In den drei Formen reißt es ſich auch wieder

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/258>, abgerufen am 22.11.2024.