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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Der liebesreife Lachs führt Jahr aus Jahr ein ein geo¬
graphisch geradezu ungeheuerliches Doppelleben. Heute findest
du ihn beispielsweise als faulen Gesellen, der Seekrebse und
Heringe frißt, jenseits der Rheinmündung im Salzwasser der
Nordsee. Und etwas später begegnest du genau demselben
Exemplar hoch oben in der Gotthardgruppe der Schneealpen,
wie es als wahrhafter Akrobat in der wild schäumenden Reuß
von Klippe zu Klippe aufwärts springt, -- dreizehnhundert
Meter über dem Spiegel jener Nordsee. Jener erste Lachs ist
eben der "Freßlachs", -- und dieser letztere dasselbe Indivi¬
duum in seiner Eigenschaft als "Liebeslachs." Du hast eine neue
Variante zu dem Thema "Fressen und Lieben". Hier mit
schönster Arbeitsteilung, -- nach dem Muster: wer liebt, wird
von der Liebe allein satt. Aber der Liebeslachs ist in diesem
Falle zugleich der Akrobatenlachs, der Lachsgymnastiker. Der
Faden des Epos ist nun folgender. Bleiben wir als Beispiel
bei den Rheinlachsen.

Die offene Nordsee rauscht draußen jenseits der Rhein¬
mündung. Da schwimmen Lachse, Männlein wie Weiblein.
Jeder haust für sich und frißt, frißt unaufhörlich, bis sein
Ränzchen so gemästet ist, daß in dem Zellenstaat seines Leibes
jene tiefsinnige Überproduktion entsteht, die sich in Abspaltung
von Eizellen und Samenzellen, Rogen und Milch, zu erkennen
giebt. Auf einmal kommt ein neuer Beruf über Herrn und
Frau Lachs. Sie sammeln sich zu Scharen von einem halben
hundert Stück. Das Fressen wird ihnen Nebensache. Sie er¬
scheinen mit der Flut an der Flußmündung. Ein Trinkproblem
beschäftigt sie zunächst ganz. In langsamer Schulung gewöhnen
sie sich ans Süßwasser. Eines Tages scheint die Sache glück¬
lich wieder angelernt und jetzt beginnt eine geheimnisvoll feier¬
liche Auffahrt. Aufzug der Graalsritter. Zuerst die Rogener,
also die trefflichen Jungfrauen, steigen in den Fluß. Sehr
gemessen, wie ein Pilgerzug nach uraltem Brauch. Es liegt
eine komische Gravität über all diesen Fischen, die steife Weihe

Der liebesreife Lachs führt Jahr aus Jahr ein ein geo¬
graphiſch geradezu ungeheuerliches Doppelleben. Heute findeſt
du ihn beiſpielsweiſe als faulen Geſellen, der Seekrebſe und
Heringe frißt, jenſeits der Rheinmündung im Salzwaſſer der
Nordſee. Und etwas ſpäter begegneſt du genau demſelben
Exemplar hoch oben in der Gotthardgruppe der Schneealpen,
wie es als wahrhafter Akrobat in der wild ſchäumenden Reuß
von Klippe zu Klippe aufwärts ſpringt, — dreizehnhundert
Meter über dem Spiegel jener Nordſee. Jener erſte Lachs iſt
eben der „Freßlachs“, — und dieſer letztere dasſelbe Indivi¬
duum in ſeiner Eigenſchaft als „Liebeslachs.“ Du haſt eine neue
Variante zu dem Thema „Freſſen und Lieben“. Hier mit
ſchönſter Arbeitsteilung, — nach dem Muſter: wer liebt, wird
von der Liebe allein ſatt. Aber der Liebeslachs iſt in dieſem
Falle zugleich der Akrobatenlachs, der Lachsgymnaſtiker. Der
Faden des Epos iſt nun folgender. Bleiben wir als Beiſpiel
bei den Rheinlachſen.

Die offene Nordſee rauſcht draußen jenſeits der Rhein¬
mündung. Da ſchwimmen Lachſe, Männlein wie Weiblein.
Jeder hauſt für ſich und frißt, frißt unaufhörlich, bis ſein
Ränzchen ſo gemäſtet iſt, daß in dem Zellenſtaat ſeines Leibes
jene tiefſinnige Überproduktion entſteht, die ſich in Abſpaltung
von Eizellen und Samenzellen, Rogen und Milch, zu erkennen
giebt. Auf einmal kommt ein neuer Beruf über Herrn und
Frau Lachs. Sie ſammeln ſich zu Scharen von einem halben
hundert Stück. Das Freſſen wird ihnen Nebenſache. Sie er¬
ſcheinen mit der Flut an der Flußmündung. Ein Trinkproblem
beſchäftigt ſie zunächſt ganz. In langſamer Schulung gewöhnen
ſie ſich ans Süßwaſſer. Eines Tages ſcheint die Sache glück¬
lich wieder angelernt und jetzt beginnt eine geheimnisvoll feier¬
liche Auffahrt. Aufzug der Graalsritter. Zuerſt die Rogener,
alſo die trefflichen Jungfrauen, ſteigen in den Fluß. Sehr
gemeſſen, wie ein Pilgerzug nach uraltem Brauch. Es liegt
eine komiſche Gravität über all dieſen Fiſchen, die ſteife Weihe

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[220/0236] Der liebesreife Lachs führt Jahr aus Jahr ein ein geo¬ graphiſch geradezu ungeheuerliches Doppelleben. Heute findeſt du ihn beiſpielsweiſe als faulen Geſellen, der Seekrebſe und Heringe frißt, jenſeits der Rheinmündung im Salzwaſſer der Nordſee. Und etwas ſpäter begegneſt du genau demſelben Exemplar hoch oben in der Gotthardgruppe der Schneealpen, wie es als wahrhafter Akrobat in der wild ſchäumenden Reuß von Klippe zu Klippe aufwärts ſpringt, — dreizehnhundert Meter über dem Spiegel jener Nordſee. Jener erſte Lachs iſt eben der „Freßlachs“, — und dieſer letztere dasſelbe Indivi¬ duum in ſeiner Eigenſchaft als „Liebeslachs.“ Du haſt eine neue Variante zu dem Thema „Freſſen und Lieben“. Hier mit ſchönſter Arbeitsteilung, — nach dem Muſter: wer liebt, wird von der Liebe allein ſatt. Aber der Liebeslachs iſt in dieſem Falle zugleich der Akrobatenlachs, der Lachsgymnaſtiker. Der Faden des Epos iſt nun folgender. Bleiben wir als Beiſpiel bei den Rheinlachſen. Die offene Nordſee rauſcht draußen jenſeits der Rhein¬ mündung. Da ſchwimmen Lachſe, Männlein wie Weiblein. Jeder hauſt für ſich und frißt, frißt unaufhörlich, bis ſein Ränzchen ſo gemäſtet iſt, daß in dem Zellenſtaat ſeines Leibes jene tiefſinnige Überproduktion entſteht, die ſich in Abſpaltung von Eizellen und Samenzellen, Rogen und Milch, zu erkennen giebt. Auf einmal kommt ein neuer Beruf über Herrn und Frau Lachs. Sie ſammeln ſich zu Scharen von einem halben hundert Stück. Das Freſſen wird ihnen Nebenſache. Sie er¬ ſcheinen mit der Flut an der Flußmündung. Ein Trinkproblem beſchäftigt ſie zunächſt ganz. In langſamer Schulung gewöhnen ſie ſich ans Süßwaſſer. Eines Tages ſcheint die Sache glück¬ lich wieder angelernt und jetzt beginnt eine geheimnisvoll feier¬ liche Auffahrt. Aufzug der Graalsritter. Zuerſt die Rogener, alſo die trefflichen Jungfrauen, ſteigen in den Fluß. Sehr gemeſſen, wie ein Pilgerzug nach uraltem Brauch. Es liegt eine komiſche Gravität über all dieſen Fiſchen, die ſteife Weihe

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/236>, abgerufen am 24.11.2024.