Harmlos. Ihr Leben ist ihr Denken, es giebt kein Zweierlei, kein Alt und Neu. Aber im Paradies wächst der Baum der Erkenntnis. Sie essen davon nur einen Apfel. Da fällt es auf sie wie ein Schauer. Ein Engel mit dem Feuerschwert steht vor dem Natur-Paradiese. Und sie sind im öden Felde, einsam. Und sie sehen, daß sie nackt sind. Ihre Liebe ist Sünde. Sie flechten sich einen Schurz und verhüllen ihre Geschlechtsteile. Sie sind nicht mehr wie Muschel, Blüte und Baum. Sie sind verjagt, verloren, herabgesunken, verflucht .... Hier schließt die Legende. Es ist das Märchen von Jahr¬ tausenden der werdenden Menschheit. Aber die Legende schließt, nicht weil sie aus ist, sondern weil man damals noch keine Fortsetzung wußte, als man sie erfand.
Heute noch stehen Tausende und Tausende hier und sie halten, wie recht ist, darum auch noch die Legende hoch als heilige Tradition, die nie weiter gehen kann. Aber in diesen Jahrtausenden ist jenes bewußte kleine Häuflein hinübergeklettert über jenen roten Spalt ins neue Gebiet. Und sie haben die Fortsetzung gefunden, mit der die Legende erst Wahrheit wird.
Adam und Eva hatten an der Erkenntnis genascht, aber nicht resolut davon sich genährt. Sie waren erst der Vormensch. Nicht mehr Tier. Noch nicht Mensch. Das einfache Leben ging ihnen verloren, aber auch die Erkenntnis hatten sie noch nicht anders als einen Mund voll, gerade genug zuerst zur Bitterkeit. Hier begann denn eine lange, lange Wanderschaft. Eine lange, tiefe, schwere Entwickelung. Aber eines Tages kamen Adam und Eva zurück vor die Paradiesespforte. Sie waren wieder nackt und lachten über den Bärenpelz, den sie sich damals in namenloser Angst um die zitternden Hüften gewickelt. Über ihre neue Nacktheit strömte aber jetzt etwas wie diamantener Schein. Sie waren jetzt wirklich Menschen geworden, Menschen, die Erkenntnis forderten, und nicht bloß naschen wollten. Und vor dieser Forderung schmolz der alte Seraphin mit seinem Schwert wie ein Schemen dahin. Sie
Harmlos. Ihr Leben iſt ihr Denken, es giebt kein Zweierlei, kein Alt und Neu. Aber im Paradies wächſt der Baum der Erkenntnis. Sie eſſen davon nur einen Apfel. Da fällt es auf ſie wie ein Schauer. Ein Engel mit dem Feuerſchwert ſteht vor dem Natur-Paradieſe. Und ſie ſind im öden Felde, einſam. Und ſie ſehen, daß ſie nackt ſind. Ihre Liebe iſt Sünde. Sie flechten ſich einen Schurz und verhüllen ihre Geſchlechtsteile. Sie ſind nicht mehr wie Muſchel, Blüte und Baum. Sie ſind verjagt, verloren, herabgeſunken, verflucht .... Hier ſchließt die Legende. Es iſt das Märchen von Jahr¬ tauſenden der werdenden Menſchheit. Aber die Legende ſchließt, nicht weil ſie aus iſt, ſondern weil man damals noch keine Fortſetzung wußte, als man ſie erfand.
Heute noch ſtehen Tauſende und Tauſende hier und ſie halten, wie recht iſt, darum auch noch die Legende hoch als heilige Tradition, die nie weiter gehen kann. Aber in dieſen Jahrtauſenden iſt jenes bewußte kleine Häuflein hinübergeklettert über jenen roten Spalt ins neue Gebiet. Und ſie haben die Fortſetzung gefunden, mit der die Legende erſt Wahrheit wird.
Adam und Eva hatten an der Erkenntnis genaſcht, aber nicht reſolut davon ſich genährt. Sie waren erſt der Vormenſch. Nicht mehr Tier. Noch nicht Menſch. Das einfache Leben ging ihnen verloren, aber auch die Erkenntnis hatten ſie noch nicht anders als einen Mund voll, gerade genug zuerſt zur Bitterkeit. Hier begann denn eine lange, lange Wanderſchaft. Eine lange, tiefe, ſchwere Entwickelung. Aber eines Tages kamen Adam und Eva zurück vor die Paradieſespforte. Sie waren wieder nackt und lachten über den Bärenpelz, den ſie ſich damals in namenloſer Angſt um die zitternden Hüften gewickelt. Über ihre neue Nacktheit ſtrömte aber jetzt etwas wie diamantener Schein. Sie waren jetzt wirklich Menſchen geworden, Menſchen, die Erkenntnis forderten, und nicht bloß naſchen wollten. Und vor dieſer Forderung ſchmolz der alte Seraphin mit ſeinem Schwert wie ein Schemen dahin. Sie
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0022"n="6"/>
Harmlos. Ihr Leben iſt ihr Denken, es giebt kein Zweierlei,<lb/>
kein Alt und Neu. Aber im Paradies wächſt der Baum der<lb/>
Erkenntnis. Sie eſſen davon nur <hirendition="#g">einen</hi> Apfel. Da fällt es<lb/>
auf ſie wie ein Schauer. Ein Engel mit dem Feuerſchwert<lb/>ſteht vor dem Natur-Paradieſe. Und ſie ſind im öden Felde,<lb/>
einſam. Und ſie ſehen, daß ſie nackt ſind. Ihre Liebe iſt<lb/>
Sünde. Sie flechten ſich einen Schurz und verhüllen ihre<lb/>
Geſchlechtsteile. Sie ſind nicht mehr wie Muſchel, Blüte und<lb/>
Baum. Sie ſind verjagt, verloren, herabgeſunken, verflucht ....<lb/>
Hier ſchließt die Legende. Es iſt das Märchen von Jahr¬<lb/>
tauſenden der werdenden Menſchheit. Aber die Legende ſchließt,<lb/>
nicht weil ſie aus iſt, ſondern weil man damals noch keine<lb/>
Fortſetzung wußte, als man ſie erfand.</p><lb/><p>Heute noch ſtehen Tauſende und Tauſende hier und ſie<lb/>
halten, wie recht iſt, darum auch noch die Legende hoch als<lb/>
heilige Tradition, die nie weiter gehen kann. Aber in dieſen<lb/>
Jahrtauſenden iſt jenes bewußte kleine Häuflein hinübergeklettert<lb/>
über jenen roten Spalt ins neue Gebiet. Und ſie haben die<lb/>
Fortſetzung gefunden, mit der die Legende erſt Wahrheit wird.</p><lb/><p>Adam und Eva hatten an der Erkenntnis genaſcht, aber<lb/>
nicht reſolut davon ſich genährt. Sie waren erſt der Vormenſch.<lb/>
Nicht mehr Tier. Noch nicht Menſch. Das einfache Leben<lb/>
ging ihnen verloren, aber auch die Erkenntnis hatten ſie noch<lb/>
nicht anders als einen Mund voll, gerade genug zuerſt zur<lb/>
Bitterkeit. Hier begann denn eine lange, lange Wanderſchaft.<lb/>
Eine lange, tiefe, ſchwere Entwickelung. Aber eines Tages<lb/>
kamen Adam und Eva zurück vor die Paradieſespforte. Sie<lb/>
waren wieder nackt und lachten über den Bärenpelz, den ſie<lb/>ſich damals in namenloſer Angſt um die zitternden Hüften<lb/>
gewickelt. Über ihre neue Nacktheit ſtrömte aber jetzt etwas<lb/>
wie diamantener Schein. Sie waren jetzt wirklich Menſchen<lb/>
geworden, Menſchen, die Erkenntnis <hirendition="#g">forderten</hi>, und nicht bloß<lb/>
naſchen wollten. Und vor dieſer Forderung ſchmolz der alte<lb/>
Seraphin mit ſeinem Schwert wie ein Schemen dahin. Sie<lb/></p></div></body></text></TEI>
[6/0022]
Harmlos. Ihr Leben iſt ihr Denken, es giebt kein Zweierlei,
kein Alt und Neu. Aber im Paradies wächſt der Baum der
Erkenntnis. Sie eſſen davon nur einen Apfel. Da fällt es
auf ſie wie ein Schauer. Ein Engel mit dem Feuerſchwert
ſteht vor dem Natur-Paradieſe. Und ſie ſind im öden Felde,
einſam. Und ſie ſehen, daß ſie nackt ſind. Ihre Liebe iſt
Sünde. Sie flechten ſich einen Schurz und verhüllen ihre
Geſchlechtsteile. Sie ſind nicht mehr wie Muſchel, Blüte und
Baum. Sie ſind verjagt, verloren, herabgeſunken, verflucht ....
Hier ſchließt die Legende. Es iſt das Märchen von Jahr¬
tauſenden der werdenden Menſchheit. Aber die Legende ſchließt,
nicht weil ſie aus iſt, ſondern weil man damals noch keine
Fortſetzung wußte, als man ſie erfand.
Heute noch ſtehen Tauſende und Tauſende hier und ſie
halten, wie recht iſt, darum auch noch die Legende hoch als
heilige Tradition, die nie weiter gehen kann. Aber in dieſen
Jahrtauſenden iſt jenes bewußte kleine Häuflein hinübergeklettert
über jenen roten Spalt ins neue Gebiet. Und ſie haben die
Fortſetzung gefunden, mit der die Legende erſt Wahrheit wird.
Adam und Eva hatten an der Erkenntnis genaſcht, aber
nicht reſolut davon ſich genährt. Sie waren erſt der Vormenſch.
Nicht mehr Tier. Noch nicht Menſch. Das einfache Leben
ging ihnen verloren, aber auch die Erkenntnis hatten ſie noch
nicht anders als einen Mund voll, gerade genug zuerſt zur
Bitterkeit. Hier begann denn eine lange, lange Wanderſchaft.
Eine lange, tiefe, ſchwere Entwickelung. Aber eines Tages
kamen Adam und Eva zurück vor die Paradieſespforte. Sie
waren wieder nackt und lachten über den Bärenpelz, den ſie
ſich damals in namenloſer Angſt um die zitternden Hüften
gewickelt. Über ihre neue Nacktheit ſtrömte aber jetzt etwas
wie diamantener Schein. Sie waren jetzt wirklich Menſchen
geworden, Menſchen, die Erkenntnis forderten, und nicht bloß
naſchen wollten. Und vor dieſer Forderung ſchmolz der alte
Seraphin mit ſeinem Schwert wie ein Schemen dahin. Sie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/22>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.