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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Meerwasser. Das Meer ist nun riesig und flutet von Erdteil
zu Erdteil. Soweit wollen wir gewiß uns nicht die Männlein
und Weiblein des damaligen wurm- oder fischähnlichen Vor¬
menschen voneinander getrennt denken. Mögen sie sich selbst
so nahe gewesen sein, wie etwa ein Mann und ein Weib, die
mit zwei Armbreiten Spielraum an einer gemeinsamen Bade¬
stelle nebeneinander schwimmen. Jetzt denke dir aber, es soll
mitten auch bei diesem Schwimmen von dem Weibe sich ein
einziges punktgroßes lebendes Eilein und von dem Manne ein
einziges, mikroskopisch kleines, nur ein zwanzigstel eines Milli¬
meters langes Samentierchen frei ins rauschende Wasser hinein
lösen. Ei wie Samentierchen sollen zwar die gute Eigenschaft
vollauf besitzen, daß sie sich im kalten Salzwasser fidel erhalten
können. Aber werden sie jemals zusammenkommen? Die
Wahrscheinlichkeit ist sicher noch viel geringer als die für zwei
Flöhe in einem Heuschober. Viel geringer, denn das unab¬
lässig bewegte Wasser wird sie auch noch auseinandertragen.

Die Wahrscheinlichkeit würde indessen beträchtlich wachsen,
wenn du dir dächtest, es gingen nicht eins, sondern hundert,
oder tausend oder zehntausend Samentierchen ab. Oder es
vermehrte sich auch die Zahl der Eier. Je mehr, je besser.
Wenn erst die Zahl der beliebig ausgeströmten Geschlechtszellen
anfinge, etwa den ganzen trennenden Kubikmeter Wasser zwischen
den beiden Schwimmern mehr oder minder in dichter Wolke zu
erfüllen, wäre eine Art Gewißheit erreicht, daß nicht nur die
nötige einmalige Mischung zweier Zellen stattfände, sondern sehr
wahrscheinlich noch eine Masse Überproduktion an Zeugung.
Auch diese Überproduktion könnte aber sehr erwünscht sein, im
Falle es sich um ein stark verfolgtes Wesen handelt, dessen
Sterbeziffer beständig rapid anwächst, so daß die Zeugung auch
gleichsam im Quadrat nach muß.

Das jetzt ist die Situation, wo die Natur zuerst an¬
gefangen hat mit der "Verschwendung" der Geschlechtsstoffe.
Aus der Logik der Situation heraus ist es aber hier gar keine

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Meerwaſſer. Das Meer iſt nun rieſig und flutet von Erdteil
zu Erdteil. Soweit wollen wir gewiß uns nicht die Männlein
und Weiblein des damaligen wurm- oder fiſchähnlichen Vor¬
menſchen voneinander getrennt denken. Mögen ſie ſich ſelbſt
ſo nahe geweſen ſein, wie etwa ein Mann und ein Weib, die
mit zwei Armbreiten Spielraum an einer gemeinſamen Bade¬
ſtelle nebeneinander ſchwimmen. Jetzt denke dir aber, es ſoll
mitten auch bei dieſem Schwimmen von dem Weibe ſich ein
einziges punktgroßes lebendes Eilein und von dem Manne ein
einziges, mikroſkopiſch kleines, nur ein zwanzigſtel eines Milli¬
meters langes Samentierchen frei ins rauſchende Waſſer hinein
löſen. Ei wie Samentierchen ſollen zwar die gute Eigenſchaft
vollauf beſitzen, daß ſie ſich im kalten Salzwaſſer fidel erhalten
können. Aber werden ſie jemals zuſammenkommen? Die
Wahrſcheinlichkeit iſt ſicher noch viel geringer als die für zwei
Flöhe in einem Heuſchober. Viel geringer, denn das unab¬
läſſig bewegte Waſſer wird ſie auch noch auseinandertragen.

Die Wahrſcheinlichkeit würde indeſſen beträchtlich wachſen,
wenn du dir dächteſt, es gingen nicht eins, ſondern hundert,
oder tauſend oder zehntauſend Samentierchen ab. Oder es
vermehrte ſich auch die Zahl der Eier. Je mehr, je beſſer.
Wenn erſt die Zahl der beliebig ausgeſtrömten Geſchlechtszellen
anfinge, etwa den ganzen trennenden Kubikmeter Waſſer zwiſchen
den beiden Schwimmern mehr oder minder in dichter Wolke zu
erfüllen, wäre eine Art Gewißheit erreicht, daß nicht nur die
nötige einmalige Miſchung zweier Zellen ſtattfände, ſondern ſehr
wahrſcheinlich noch eine Maſſe Überproduktion an Zeugung.
Auch dieſe Überproduktion könnte aber ſehr erwünſcht ſein, im
Falle es ſich um ein ſtark verfolgtes Weſen handelt, deſſen
Sterbeziffer beſtändig rapid anwächſt, ſo daß die Zeugung auch
gleichſam im Quadrat nach muß.

Das jetzt iſt die Situation, wo die Natur zuerſt an¬
gefangen hat mit der „Verſchwendung“ der Geſchlechtsſtoffe.
Aus der Logik der Situation heraus iſt es aber hier gar keine

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[193/0209] Meerwaſſer. Das Meer iſt nun rieſig und flutet von Erdteil zu Erdteil. Soweit wollen wir gewiß uns nicht die Männlein und Weiblein des damaligen wurm- oder fiſchähnlichen Vor¬ menſchen voneinander getrennt denken. Mögen ſie ſich ſelbſt ſo nahe geweſen ſein, wie etwa ein Mann und ein Weib, die mit zwei Armbreiten Spielraum an einer gemeinſamen Bade¬ ſtelle nebeneinander ſchwimmen. Jetzt denke dir aber, es ſoll mitten auch bei dieſem Schwimmen von dem Weibe ſich ein einziges punktgroßes lebendes Eilein und von dem Manne ein einziges, mikroſkopiſch kleines, nur ein zwanzigſtel eines Milli¬ meters langes Samentierchen frei ins rauſchende Waſſer hinein löſen. Ei wie Samentierchen ſollen zwar die gute Eigenſchaft vollauf beſitzen, daß ſie ſich im kalten Salzwaſſer fidel erhalten können. Aber werden ſie jemals zuſammenkommen? Die Wahrſcheinlichkeit iſt ſicher noch viel geringer als die für zwei Flöhe in einem Heuſchober. Viel geringer, denn das unab¬ läſſig bewegte Waſſer wird ſie auch noch auseinandertragen. Die Wahrſcheinlichkeit würde indeſſen beträchtlich wachſen, wenn du dir dächteſt, es gingen nicht eins, ſondern hundert, oder tauſend oder zehntauſend Samentierchen ab. Oder es vermehrte ſich auch die Zahl der Eier. Je mehr, je beſſer. Wenn erſt die Zahl der beliebig ausgeſtrömten Geſchlechtszellen anfinge, etwa den ganzen trennenden Kubikmeter Waſſer zwiſchen den beiden Schwimmern mehr oder minder in dichter Wolke zu erfüllen, wäre eine Art Gewißheit erreicht, daß nicht nur die nötige einmalige Miſchung zweier Zellen ſtattfände, ſondern ſehr wahrſcheinlich noch eine Maſſe Überproduktion an Zeugung. Auch dieſe Überproduktion könnte aber ſehr erwünſcht ſein, im Falle es ſich um ein ſtark verfolgtes Weſen handelt, deſſen Sterbeziffer beſtändig rapid anwächſt, ſo daß die Zeugung auch gleichſam im Quadrat nach muß. Das jetzt iſt die Situation, wo die Natur zuerſt an¬ gefangen hat mit der „Verſchwendung“ der Geſchlechtsſtoffe. Aus der Logik der Situation heraus iſt es aber hier gar keine 13

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/209>, abgerufen am 23.11.2024.