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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Blättern wir ein paar Seiten zurück im großen Ur- und
Hauptbuch der Liebe. Da hast du am Anfang des ganzen
riesigen Stammbaumes der Pflanzen und Tiere auf der alten
dicken Erde jene winzigen Rumpelstilzchen, die Moneren,
Amöben, Bazillen. Ihr ganzer Leib besteht nur aus einer
einzigen Zelle und ihre ganze Liebe ist ursprünglich Selbst¬
teilung dieser Zelle in zwei oder mehrere Stücke. Auf einer
unbedeutend höheren Stufe bei ihnen verschmelzen zwei solcher
Teilstücke von zwei verschiedenen Individuen dann bei gelegent¬
licher Begegnung nochmals miteinander und erst das so ge¬
bildete Neuwesen teilt sich jetzt wieder. Hier denn hast du
eine Art neutralen Urbodens der ganzen Liebe, die wahre
Mutterlauge, aus der alles werden mag.

In der Trennung der Zellenteile hast du den Uranfang
aller Distance, in der Verschmelzung den Uranfang aller
Mischung. Beides, scheint es, kommt hier gleichermaßen schon
aus der Urwurzel herauf. Ja da ist wirklich in der Zellen-
Verschmelzung schon der ganze Fundamentalakt der Mischliebe
gegeben. Zugleich aber ist in der Nötigung, daß die beiden
Mischzellen sich erst begegnen, erst finden müssen, daß sie von
zwei Richtungen, zwei verschiedenen älteren Individuen her¬
kommen, auch eine Fundamentalthatsache der Distanceliebe ge¬
geben. Und in der Spaltung selbst, der Lösung eines Zell¬
bruchstückes vom anderen hast du endlich auch noch eine Fun¬
damentalsache der Dauerliebe, wenn schon in verschleiertster
Form: die Losspaltung eines jüngeren, kleineren Individuums
von einem älteren, großen durch einen neuen Schnitt, eine
neue Distance. Vor diesem Akt als Ganzem ließe sich also
von irgend welchem geschichtlichen Nacheinander der drei Liebes-
Arten kaum reden.

Aber wenn du genauer hinschaust, hellt sich dir doch
folgendes Lichtstreifchen weiter auf. Dieser ganze Akt der Ur¬
liebe da wird heute noch von dir, dem hochgelobten weisen
Menschenkinde im zwanzigsten Jahrhundert, ganz genau so in

Blättern wir ein paar Seiten zurück im großen Ur- und
Hauptbuch der Liebe. Da haſt du am Anfang des ganzen
rieſigen Stammbaumes der Pflanzen und Tiere auf der alten
dicken Erde jene winzigen Rumpelſtilzchen, die Moneren,
Amöben, Bazillen. Ihr ganzer Leib beſteht nur aus einer
einzigen Zelle und ihre ganze Liebe iſt urſprünglich Selbſt¬
teilung dieſer Zelle in zwei oder mehrere Stücke. Auf einer
unbedeutend höheren Stufe bei ihnen verſchmelzen zwei ſolcher
Teilſtücke von zwei verſchiedenen Individuen dann bei gelegent¬
licher Begegnung nochmals miteinander und erſt das ſo ge¬
bildete Neuweſen teilt ſich jetzt wieder. Hier denn haſt du
eine Art neutralen Urbodens der ganzen Liebe, die wahre
Mutterlauge, aus der alles werden mag.

In der Trennung der Zellenteile haſt du den Uranfang
aller Diſtance, in der Verſchmelzung den Uranfang aller
Miſchung. Beides, ſcheint es, kommt hier gleichermaßen ſchon
aus der Urwurzel herauf. Ja da iſt wirklich in der Zellen-
Verſchmelzung ſchon der ganze Fundamentalakt der Miſchliebe
gegeben. Zugleich aber iſt in der Nötigung, daß die beiden
Miſchzellen ſich erſt begegnen, erſt finden müſſen, daß ſie von
zwei Richtungen, zwei verſchiedenen älteren Individuen her¬
kommen, auch eine Fundamentalthatſache der Diſtanceliebe ge¬
geben. Und in der Spaltung ſelbſt, der Löſung eines Zell¬
bruchſtückes vom anderen haſt du endlich auch noch eine Fun¬
damentalſache der Dauerliebe, wenn ſchon in verſchleiertſter
Form: die Losſpaltung eines jüngeren, kleineren Individuums
von einem älteren, großen durch einen neuen Schnitt, eine
neue Diſtance. Vor dieſem Akt als Ganzem ließe ſich alſo
von irgend welchem geſchichtlichen Nacheinander der drei Liebes-
Arten kaum reden.

Aber wenn du genauer hinſchauſt, hellt ſich dir doch
folgendes Lichtſtreifchen weiter auf. Dieſer ganze Akt der Ur¬
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[160/0176] Blättern wir ein paar Seiten zurück im großen Ur- und Hauptbuch der Liebe. Da haſt du am Anfang des ganzen rieſigen Stammbaumes der Pflanzen und Tiere auf der alten dicken Erde jene winzigen Rumpelſtilzchen, die Moneren, Amöben, Bazillen. Ihr ganzer Leib beſteht nur aus einer einzigen Zelle und ihre ganze Liebe iſt urſprünglich Selbſt¬ teilung dieſer Zelle in zwei oder mehrere Stücke. Auf einer unbedeutend höheren Stufe bei ihnen verſchmelzen zwei ſolcher Teilſtücke von zwei verſchiedenen Individuen dann bei gelegent¬ licher Begegnung nochmals miteinander und erſt das ſo ge¬ bildete Neuweſen teilt ſich jetzt wieder. Hier denn haſt du eine Art neutralen Urbodens der ganzen Liebe, die wahre Mutterlauge, aus der alles werden mag. In der Trennung der Zellenteile haſt du den Uranfang aller Diſtance, in der Verſchmelzung den Uranfang aller Miſchung. Beides, ſcheint es, kommt hier gleichermaßen ſchon aus der Urwurzel herauf. Ja da iſt wirklich in der Zellen- Verſchmelzung ſchon der ganze Fundamentalakt der Miſchliebe gegeben. Zugleich aber iſt in der Nötigung, daß die beiden Miſchzellen ſich erſt begegnen, erſt finden müſſen, daß ſie von zwei Richtungen, zwei verſchiedenen älteren Individuen her¬ kommen, auch eine Fundamentalthatſache der Diſtanceliebe ge¬ geben. Und in der Spaltung ſelbſt, der Löſung eines Zell¬ bruchſtückes vom anderen haſt du endlich auch noch eine Fun¬ damentalſache der Dauerliebe, wenn ſchon in verſchleiertſter Form: die Losſpaltung eines jüngeren, kleineren Individuums von einem älteren, großen durch einen neuen Schnitt, eine neue Diſtance. Vor dieſem Akt als Ganzem ließe ſich alſo von irgend welchem geſchichtlichen Nacheinander der drei Liebes- Arten kaum reden. Aber wenn du genauer hinſchauſt, hellt ſich dir doch folgendes Lichtſtreifchen weiter auf. Dieſer ganze Akt der Ur¬ liebe da wird heute noch von dir, dem hochgelobten weiſen Menſchenkinde im zwanzigſten Jahrhundert, ganz genau ſo in

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/176>, abgerufen am 22.11.2024.