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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Liebesindividuums zweifellos dicht an der Minimalgrenze, --
die Distanceliebe steht also auf dem Punkte, Mischliebe zu
werden. Andererseits ist der Kuß aber thatsächlich noch keine
Mischliebe. Die Organe der Mischliebe sind bei ihm noch gar
nicht in Thätigkeit. Die Berührung ist noch eine reine Tast-
Berührung und zwar eine solche vom Kopf aus, also der am
meisten auf Distanceliebe eingestellten Gegend des Gesamt¬
menschen. Auf dieser Messerschneide können die beiden
Lieben noch scharf getrennt werden, wenn auch dicht vor Thor¬
schluß. Und so hat sich um diesen Kußakt ein wahrer Ratten¬
könig der allerverschiedensten Wertungen und Deutungen herum¬
geknäuelt.

Auf diesen Schlußwert hat sich gleichsam der ganze Ver¬
geistigungsprozeß der Distanceliebe wie mit äußerster Kraft
konzentriert, -- bis nahezu zum völligen Verlorengehen und
Vergessenwerden seiner alten eigentlichen Rolle als Umschlag
zur Mischliebe. Aus einer Introduktion der Mischliebe ist er
zuerst zu einem Surrogat geworden da, wo die letzte Minimal¬
distance nicht mehr beseitigt werden konnte, als Grenzwert
gleichsam des Kampfes und der Sehnsucht um die völlige
Mischliebe.

Dann ist aber aus dem Surrogat ein Symbol geworden,
also schon eine rein geistige Sache: das denkende Gehirn war
nicht umsonst so nahe. Und dieses Symbols hat sich jetzt
gerade die ausgesprochenste Distanceliebe bemächtigt. In ihren
Händen ist der Kuß zum Symbol der Liebe geworden, die
ausgesucht niemals körperliche Mischliebe werden soll oder es
überhaupt nicht werden kann.

Die Dauerliebe, die jede spätere körperliche Neumischung
von Eltern und Kindern als die wahre Sünde wider den hei¬
ligen Geist perhorresziert, hat sich gerade des Kusses als
Ausdruck der Eltern- und Kindesliebe in umfassendem Maß
bemächtigt.

Die "keuscheste", also vergeistigtste Unschuldsliebe per

Liebesindividuums zweifellos dicht an der Minimalgrenze, —
die Diſtanceliebe ſteht alſo auf dem Punkte, Miſchliebe zu
werden. Andererſeits iſt der Kuß aber thatſächlich noch keine
Miſchliebe. Die Organe der Miſchliebe ſind bei ihm noch gar
nicht in Thätigkeit. Die Berührung iſt noch eine reine Taſt-
Berührung und zwar eine ſolche vom Kopf aus, alſo der am
meiſten auf Diſtanceliebe eingeſtellten Gegend des Geſamt¬
menſchen. Auf dieſer Meſſerſchneide können die beiden
Lieben noch ſcharf getrennt werden, wenn auch dicht vor Thor¬
ſchluß. Und ſo hat ſich um dieſen Kußakt ein wahrer Ratten¬
könig der allerverſchiedenſten Wertungen und Deutungen herum¬
geknäuelt.

Auf dieſen Schlußwert hat ſich gleichſam der ganze Ver¬
geiſtigungsprozeß der Diſtanceliebe wie mit äußerſter Kraft
konzentriert, — bis nahezu zum völligen Verlorengehen und
Vergeſſenwerden ſeiner alten eigentlichen Rolle als Umſchlag
zur Miſchliebe. Aus einer Introduktion der Miſchliebe iſt er
zuerſt zu einem Surrogat geworden da, wo die letzte Minimal¬
diſtance nicht mehr beſeitigt werden konnte, als Grenzwert
gleichſam des Kampfes und der Sehnſucht um die völlige
Miſchliebe.

Dann iſt aber aus dem Surrogat ein Symbol geworden,
alſo ſchon eine rein geiſtige Sache: das denkende Gehirn war
nicht umſonſt ſo nahe. Und dieſes Symbols hat ſich jetzt
gerade die ausgeſprochenſte Diſtanceliebe bemächtigt. In ihren
Händen iſt der Kuß zum Symbol der Liebe geworden, die
ausgeſucht niemals körperliche Miſchliebe werden ſoll oder es
überhaupt nicht werden kann.

Die Dauerliebe, die jede ſpätere körperliche Neumiſchung
von Eltern und Kindern als die wahre Sünde wider den hei¬
ligen Geiſt perhorresziert, hat ſich gerade des Kuſſes als
Ausdruck der Eltern- und Kindesliebe in umfaſſendem Maß
bemächtigt.

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[151/0167] Liebesindividuums zweifellos dicht an der Minimalgrenze, — die Diſtanceliebe ſteht alſo auf dem Punkte, Miſchliebe zu werden. Andererſeits iſt der Kuß aber thatſächlich noch keine Miſchliebe. Die Organe der Miſchliebe ſind bei ihm noch gar nicht in Thätigkeit. Die Berührung iſt noch eine reine Taſt- Berührung und zwar eine ſolche vom Kopf aus, alſo der am meiſten auf Diſtanceliebe eingeſtellten Gegend des Geſamt¬ menſchen. Auf dieſer Meſſerſchneide können die beiden Lieben noch ſcharf getrennt werden, wenn auch dicht vor Thor¬ ſchluß. Und ſo hat ſich um dieſen Kußakt ein wahrer Ratten¬ könig der allerverſchiedenſten Wertungen und Deutungen herum¬ geknäuelt. Auf dieſen Schlußwert hat ſich gleichſam der ganze Ver¬ geiſtigungsprozeß der Diſtanceliebe wie mit äußerſter Kraft konzentriert, — bis nahezu zum völligen Verlorengehen und Vergeſſenwerden ſeiner alten eigentlichen Rolle als Umſchlag zur Miſchliebe. Aus einer Introduktion der Miſchliebe iſt er zuerſt zu einem Surrogat geworden da, wo die letzte Minimal¬ diſtance nicht mehr beſeitigt werden konnte, als Grenzwert gleichſam des Kampfes und der Sehnſucht um die völlige Miſchliebe. Dann iſt aber aus dem Surrogat ein Symbol geworden, alſo ſchon eine rein geiſtige Sache: das denkende Gehirn war nicht umſonſt ſo nahe. Und dieſes Symbols hat ſich jetzt gerade die ausgeſprochenſte Diſtanceliebe bemächtigt. In ihren Händen iſt der Kuß zum Symbol der Liebe geworden, die ausgeſucht niemals körperliche Miſchliebe werden ſoll oder es überhaupt nicht werden kann. Die Dauerliebe, die jede ſpätere körperliche Neumiſchung von Eltern und Kindern als die wahre Sünde wider den hei¬ ligen Geiſt perhorresziert, hat ſich gerade des Kuſſes als Ausdruck der Eltern- und Kindesliebe in umfaſſendem Maß bemächtigt. Die „keuſcheſte“, alſo vergeiſtigtſte Unſchuldsliebe per

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/167>, abgerufen am 22.11.2024.