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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Momentbilder schließlich geradezu ersetzen könnte. Das steht,
wenn nicht in der Erfüllung, so doch bereits in der Linie
unserer Technik. Und doch begreifst du, daß das alles ein
Ende hat in einem ganz bestimmten Moment. Die Liebes¬
individualität bedarf zu ihrer vollen Gründung mindestens
eines einzigen Augenblicks, da es sich faktisch nicht mehr um
Kilometernähen handeln darf, sondern nicht einmal mehr um Centi¬
meter. Der äußerste Liebesakt fällt plötzlich auch beim höchsten
Kulturmenschen heraus aus der ganzen Welt der zwischen ge¬
legten Werkzeuge, der Buchstaben, Posten, Telephone, Kabel, -- er
lenkt für eine einzige Handlung in der Kette doch noch wieder
zurück auf jenes alte Siphonophoren-Prinzip. Allerdings nur
für einen Moment. In diesem Moment aber siegt das Prinzip
des Aneinanderwachsens noch einmal wie in einer äußersten
posthumen Vision, einem Aufleben eines Stückes Urnatur, Ur¬
welt, Kinderzeit vor einer Sekunde tiefsten Sichversenkens in
das größte Mysterium des dunkeln Natur-Urgrundes, der keine
Zeit, kein Alt und Neu kennt, sondern ewig wieder in uns
mit seiner Dämonenkraft aufersteht: der Zeugung. In diesem
Moment muß auch das Liebesindividuum heim, ans Herz der
Urmutter, da hilft kein Sträuben. Es muß schöpfen aus dem
innerlichsten Jugendbrunnen, -- muß gleichsam hinabsteigen
zu den Nornen wie Odhin, zu den Müttern wie Faust, --
und da versinkt alle Kultur, da muß Zell-Leib zum Zell-Leibe,
um in heißer Umarmung seinen Abstand auf das Mindestmaß
zu reduzieren, das überhaupt so großen Körpern gegeben ist.
Ja, der Akt geht in Wirklichkeit, jenseits dieser Mindest¬
nähe, noch tiefer. Gehen doch die losgelassene Samenzelle
und die entgegenwandernde Eizelle im Schoße des einen Liebes¬
partners eine letztliche wahre Mischung Leibes und der Seele
ein, gegen die gehalten, selbst die engste Aneinanderfügung der
großen Hälften des Liebesindividuums das Ineinanderschieben
zweier Attrappen bleibt. Erst der Inhalt vollzieht das End¬
gültige, indem Samenzelle mit Eizelle verschmilzt.

Momentbilder ſchließlich geradezu erſetzen könnte. Das ſteht,
wenn nicht in der Erfüllung, ſo doch bereits in der Linie
unſerer Technik. Und doch begreifſt du, daß das alles ein
Ende hat in einem ganz beſtimmten Moment. Die Liebes¬
individualität bedarf zu ihrer vollen Gründung mindeſtens
eines einzigen Augenblicks, da es ſich faktiſch nicht mehr um
Kilometernähen handeln darf, ſondern nicht einmal mehr um Centi¬
meter. Der äußerſte Liebesakt fällt plötzlich auch beim höchſten
Kulturmenſchen heraus aus der ganzen Welt der zwiſchen ge¬
legten Werkzeuge, der Buchſtaben, Poſten, Telephone, Kabel, — er
lenkt für eine einzige Handlung in der Kette doch noch wieder
zurück auf jenes alte Siphonophoren-Prinzip. Allerdings nur
für einen Moment. In dieſem Moment aber ſiegt das Prinzip
des Aneinanderwachſens noch einmal wie in einer äußerſten
poſthumen Viſion, einem Aufleben eines Stückes Urnatur, Ur¬
welt, Kinderzeit vor einer Sekunde tiefſten Sichverſenkens in
das größte Myſterium des dunkeln Natur-Urgrundes, der keine
Zeit, kein Alt und Neu kennt, ſondern ewig wieder in uns
mit ſeiner Dämonenkraft auferſteht: der Zeugung. In dieſem
Moment muß auch das Liebesindividuum heim, ans Herz der
Urmutter, da hilft kein Sträuben. Es muß ſchöpfen aus dem
innerlichſten Jugendbrunnen, — muß gleichſam hinabſteigen
zu den Nornen wie Odhin, zu den Müttern wie Fauſt, —
und da verſinkt alle Kultur, da muß Zell-Leib zum Zell-Leibe,
um in heißer Umarmung ſeinen Abſtand auf das Mindeſtmaß
zu reduzieren, das überhaupt ſo großen Körpern gegeben iſt.
Ja, der Akt geht in Wirklichkeit, jenſeits dieſer Mindeſt¬
nähe, noch tiefer. Gehen doch die losgelaſſene Samenzelle
und die entgegenwandernde Eizelle im Schoße des einen Liebes¬
partners eine letztliche wahre Miſchung Leibes und der Seele
ein, gegen die gehalten, ſelbſt die engſte Aneinanderfügung der
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gültige, indem Samenzelle mit Eizelle verſchmilzt.

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[142/0158] Momentbilder ſchließlich geradezu erſetzen könnte. Das ſteht, wenn nicht in der Erfüllung, ſo doch bereits in der Linie unſerer Technik. Und doch begreifſt du, daß das alles ein Ende hat in einem ganz beſtimmten Moment. Die Liebes¬ individualität bedarf zu ihrer vollen Gründung mindeſtens eines einzigen Augenblicks, da es ſich faktiſch nicht mehr um Kilometernähen handeln darf, ſondern nicht einmal mehr um Centi¬ meter. Der äußerſte Liebesakt fällt plötzlich auch beim höchſten Kulturmenſchen heraus aus der ganzen Welt der zwiſchen ge¬ legten Werkzeuge, der Buchſtaben, Poſten, Telephone, Kabel, — er lenkt für eine einzige Handlung in der Kette doch noch wieder zurück auf jenes alte Siphonophoren-Prinzip. Allerdings nur für einen Moment. In dieſem Moment aber ſiegt das Prinzip des Aneinanderwachſens noch einmal wie in einer äußerſten poſthumen Viſion, einem Aufleben eines Stückes Urnatur, Ur¬ welt, Kinderzeit vor einer Sekunde tiefſten Sichverſenkens in das größte Myſterium des dunkeln Natur-Urgrundes, der keine Zeit, kein Alt und Neu kennt, ſondern ewig wieder in uns mit ſeiner Dämonenkraft auferſteht: der Zeugung. In dieſem Moment muß auch das Liebesindividuum heim, ans Herz der Urmutter, da hilft kein Sträuben. Es muß ſchöpfen aus dem innerlichſten Jugendbrunnen, — muß gleichſam hinabſteigen zu den Nornen wie Odhin, zu den Müttern wie Fauſt, — und da verſinkt alle Kultur, da muß Zell-Leib zum Zell-Leibe, um in heißer Umarmung ſeinen Abſtand auf das Mindeſtmaß zu reduzieren, das überhaupt ſo großen Körpern gegeben iſt. Ja, der Akt geht in Wirklichkeit, jenſeits dieſer Mindeſt¬ nähe, noch tiefer. Gehen doch die losgelaſſene Samenzelle und die entgegenwandernde Eizelle im Schoße des einen Liebes¬ partners eine letztliche wahre Miſchung Leibes und der Seele ein, gegen die gehalten, ſelbſt die engſte Aneinanderfügung der großen Hälften des Liebesindividuums das Ineinanderſchieben zweier Attrappen bleibt. Erſt der Inhalt vollzieht das End¬ gültige, indem Samenzelle mit Eizelle verſchmilzt.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/158>, abgerufen am 22.11.2024.