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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Und daß alle deine Geschichts- und Naturforschung ins Detail
des Alten und entwickelungsgeschichtlich Früheren hinein eigentlich
nichts ist, als ein Versuch, in dein Augenblickssehen, das alles
in eins sieht, wieder etwas von jenem feineren Sekunden-
Maßstab zurückzubringen, auf daß das engere Entwickelungs-
Gewebe noch einmal sichtbar werde?

Du schaust deinen nackten Leib an. Als ein einheitliches
Momentbild blitzt er in deine Seele. Aber in diesem nackten
Leibe ist in Wahrheit alles umschlossen, was zwischen Nebel¬
fleck und Mensch liegt. Es ist in ein Schlußbild zusammen¬
fassend gezwängt -- aber darin ist alles. Indem du die
ganze Vorgeschichte daraus herauszulesen suchst, gliederst du
dieses "Alles" bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬
tiefteren Zeit-Maßstab um -- du liest gleichsam die Bruchteile
der Sekunde Eindruck dieses nackten Körpers wieder hinein mit
Hilfe eines bestimmten wunderbaren Traumes, über den sich
die Menschheit als "Realität" so ziemlich geeinigt hat: der
Wissenschaft. Im Detail ist es ja vielfach noch so eine Sache
sogar mit dieser Einigung, und mancher wird das, was der
eine schon für Wissenschaft hält, noch schlechtweg und mit bösem
Sinne Traum nennen. Das sei aber nun einerlei. Schließlich
ist ja das ganze greifbare Ungetüm, das wir "Wirklichkeit"
nennen, überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft
der sozial lebenden Kulturmenschheit von etwa fünftausend
Jahren gleichsam konventionell anerkannter "Einzeltraum" unter
vielen -- der logisch beste, glatteste, am häufigsten bei vielen
gleichartig wiederkehrende und also sozial am einfachsten zu
berechnende und zu verwertende Traum! Wobei denn immer
noch kleine Grenzstreitigkeiten mit unterlaufen mögen .....

Über die darfst du dir nicht allzu viel graue Haare wachsen
lassen.

Die Hauptsache ist, daß du heute noch hier mit deinem
warmen lebendigen liebesreifen Leibe an diesem hellen Maien¬
tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur ersten

Und daß alle deine Geſchichts- und Naturforſchung ins Detail
des Alten und entwickelungsgeſchichtlich Früheren hinein eigentlich
nichts iſt, als ein Verſuch, in dein Augenblicksſehen, das alles
in eins ſieht, wieder etwas von jenem feineren Sekunden-
Maßſtab zurückzubringen, auf daß das engere Entwickelungs-
Gewebe noch einmal ſichtbar werde?

Du ſchauſt deinen nackten Leib an. Als ein einheitliches
Momentbild blitzt er in deine Seele. Aber in dieſem nackten
Leibe iſt in Wahrheit alles umſchloſſen, was zwiſchen Nebel¬
fleck und Menſch liegt. Es iſt in ein Schlußbild zuſammen¬
faſſend gezwängt — aber darin iſt alles. Indem du die
ganze Vorgeſchichte daraus herauszuleſen ſuchſt, gliederſt du
dieſes „Alles“ bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬
tiefteren Zeit-Maßſtab um — du lieſt gleichſam die Bruchteile
der Sekunde Eindruck dieſes nackten Körpers wieder hinein mit
Hilfe eines beſtimmten wunderbaren Traumes, über den ſich
die Menſchheit als „Realität“ ſo ziemlich geeinigt hat: der
Wiſſenſchaft. Im Detail iſt es ja vielfach noch ſo eine Sache
ſogar mit dieſer Einigung, und mancher wird das, was der
eine ſchon für Wiſſenſchaft hält, noch ſchlechtweg und mit böſem
Sinne Traum nennen. Das ſei aber nun einerlei. Schließlich
iſt ja das ganze greifbare Ungetüm, das wir „Wirklichkeit“
nennen, überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft
der ſozial lebenden Kulturmenſchheit von etwa fünftauſend
Jahren gleichſam konventionell anerkannter „Einzeltraum“ unter
vielen — der logiſch beſte, glatteſte, am häufigſten bei vielen
gleichartig wiederkehrende und alſo ſozial am einfachſten zu
berechnende und zu verwertende Traum! Wobei denn immer
noch kleine Grenzſtreitigkeiten mit unterlaufen mögen .....

Über die darfſt du dir nicht allzu viel graue Haare wachſen
laſſen.

Die Hauptſache iſt, daß du heute noch hier mit deinem
warmen lebendigen liebesreifen Leibe an dieſem hellen Maien¬
tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur erſten

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[112/0128] Und daß alle deine Geſchichts- und Naturforſchung ins Detail des Alten und entwickelungsgeſchichtlich Früheren hinein eigentlich nichts iſt, als ein Verſuch, in dein Augenblicksſehen, das alles in eins ſieht, wieder etwas von jenem feineren Sekunden- Maßſtab zurückzubringen, auf daß das engere Entwickelungs- Gewebe noch einmal ſichtbar werde? Du ſchauſt deinen nackten Leib an. Als ein einheitliches Momentbild blitzt er in deine Seele. Aber in dieſem nackten Leibe iſt in Wahrheit alles umſchloſſen, was zwiſchen Nebel¬ fleck und Menſch liegt. Es iſt in ein Schlußbild zuſammen¬ faſſend gezwängt — aber darin iſt alles. Indem du die ganze Vorgeſchichte daraus herauszuleſen ſuchſt, gliederſt du dieſes „Alles“ bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬ tiefteren Zeit-Maßſtab um — du lieſt gleichſam die Bruchteile der Sekunde Eindruck dieſes nackten Körpers wieder hinein mit Hilfe eines beſtimmten wunderbaren Traumes, über den ſich die Menſchheit als „Realität“ ſo ziemlich geeinigt hat: der Wiſſenſchaft. Im Detail iſt es ja vielfach noch ſo eine Sache ſogar mit dieſer Einigung, und mancher wird das, was der eine ſchon für Wiſſenſchaft hält, noch ſchlechtweg und mit böſem Sinne Traum nennen. Das ſei aber nun einerlei. Schließlich iſt ja das ganze greifbare Ungetüm, das wir „Wirklichkeit“ nennen, überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft der ſozial lebenden Kulturmenſchheit von etwa fünftauſend Jahren gleichſam konventionell anerkannter „Einzeltraum“ unter vielen — der logiſch beſte, glatteſte, am häufigſten bei vielen gleichartig wiederkehrende und alſo ſozial am einfachſten zu berechnende und zu verwertende Traum! Wobei denn immer noch kleine Grenzſtreitigkeiten mit unterlaufen mögen ..... Über die darfſt du dir nicht allzu viel graue Haare wachſen laſſen. Die Hauptſache iſt, daß du heute noch hier mit deinem warmen lebendigen liebesreifen Leibe an dieſem hellen Maien¬ tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur erſten

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/128>, abgerufen am 22.11.2024.