Und daß alle deine Geschichts- und Naturforschung ins Detail des Alten und entwickelungsgeschichtlich Früheren hinein eigentlich nichts ist, als ein Versuch, in dein Augenblickssehen, das alles in eins sieht, wieder etwas von jenem feineren Sekunden- Maßstab zurückzubringen, auf daß das engere Entwickelungs- Gewebe noch einmal sichtbar werde?
Du schaust deinen nackten Leib an. Als ein einheitliches Momentbild blitzt er in deine Seele. Aber in diesem nackten Leibe ist in Wahrheit alles umschlossen, was zwischen Nebel¬ fleck und Mensch liegt. Es ist in ein Schlußbild zusammen¬ fassend gezwängt -- aber darin ist alles. Indem du die ganze Vorgeschichte daraus herauszulesen suchst, gliederst du dieses "Alles" bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬ tiefteren Zeit-Maßstab um -- du liest gleichsam die Bruchteile der Sekunde Eindruck dieses nackten Körpers wieder hinein mit Hilfe eines bestimmten wunderbaren Traumes, über den sich die Menschheit als "Realität" so ziemlich geeinigt hat: der Wissenschaft. Im Detail ist es ja vielfach noch so eine Sache sogar mit dieser Einigung, und mancher wird das, was der eine schon für Wissenschaft hält, noch schlechtweg und mit bösem Sinne Traum nennen. Das sei aber nun einerlei. Schließlich ist ja das ganze greifbare Ungetüm, das wir "Wirklichkeit" nennen, überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft der sozial lebenden Kulturmenschheit von etwa fünftausend Jahren gleichsam konventionell anerkannter "Einzeltraum" unter vielen -- der logisch beste, glatteste, am häufigsten bei vielen gleichartig wiederkehrende und also sozial am einfachsten zu berechnende und zu verwertende Traum! Wobei denn immer noch kleine Grenzstreitigkeiten mit unterlaufen mögen .....
Über die darfst du dir nicht allzu viel graue Haare wachsen lassen.
Die Hauptsache ist, daß du heute noch hier mit deinem warmen lebendigen liebesreifen Leibe an diesem hellen Maien¬ tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur ersten
Und daß alle deine Geſchichts- und Naturforſchung ins Detail des Alten und entwickelungsgeſchichtlich Früheren hinein eigentlich nichts iſt, als ein Verſuch, in dein Augenblicksſehen, das alles in eins ſieht, wieder etwas von jenem feineren Sekunden- Maßſtab zurückzubringen, auf daß das engere Entwickelungs- Gewebe noch einmal ſichtbar werde?
Du ſchauſt deinen nackten Leib an. Als ein einheitliches Momentbild blitzt er in deine Seele. Aber in dieſem nackten Leibe iſt in Wahrheit alles umſchloſſen, was zwiſchen Nebel¬ fleck und Menſch liegt. Es iſt in ein Schlußbild zuſammen¬ faſſend gezwängt — aber darin iſt alles. Indem du die ganze Vorgeſchichte daraus herauszuleſen ſuchſt, gliederſt du dieſes „Alles“ bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬ tiefteren Zeit-Maßſtab um — du lieſt gleichſam die Bruchteile der Sekunde Eindruck dieſes nackten Körpers wieder hinein mit Hilfe eines beſtimmten wunderbaren Traumes, über den ſich die Menſchheit als „Realität“ ſo ziemlich geeinigt hat: der Wiſſenſchaft. Im Detail iſt es ja vielfach noch ſo eine Sache ſogar mit dieſer Einigung, und mancher wird das, was der eine ſchon für Wiſſenſchaft hält, noch ſchlechtweg und mit böſem Sinne Traum nennen. Das ſei aber nun einerlei. Schließlich iſt ja das ganze greifbare Ungetüm, das wir „Wirklichkeit“ nennen, überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft der ſozial lebenden Kulturmenſchheit von etwa fünftauſend Jahren gleichſam konventionell anerkannter „Einzeltraum“ unter vielen — der logiſch beſte, glatteſte, am häufigſten bei vielen gleichartig wiederkehrende und alſo ſozial am einfachſten zu berechnende und zu verwertende Traum! Wobei denn immer noch kleine Grenzſtreitigkeiten mit unterlaufen mögen .....
Über die darfſt du dir nicht allzu viel graue Haare wachſen laſſen.
Die Hauptſache iſt, daß du heute noch hier mit deinem warmen lebendigen liebesreifen Leibe an dieſem hellen Maien¬ tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur erſten
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0128"n="112"/>
Und daß alle deine Geſchichts- und Naturforſchung ins Detail<lb/>
des Alten und entwickelungsgeſchichtlich Früheren hinein eigentlich<lb/>
nichts iſt, als ein Verſuch, in dein Augenblicksſehen, das alles<lb/>
in eins ſieht, wieder etwas von jenem feineren Sekunden-<lb/>
Maßſtab zurückzubringen, auf daß das engere Entwickelungs-<lb/>
Gewebe noch einmal ſichtbar werde?</p><lb/><p>Du ſchauſt deinen nackten Leib an. Als ein einheitliches<lb/>
Momentbild blitzt er in deine Seele. Aber in dieſem nackten<lb/>
Leibe iſt in Wahrheit alles umſchloſſen, was zwiſchen Nebel¬<lb/>
fleck und Menſch liegt. Es iſt in ein Schlußbild zuſammen¬<lb/>
faſſend gezwängt — aber <hirendition="#g">darin</hi> iſt <hirendition="#g">alles</hi>. Indem du die<lb/>
ganze Vorgeſchichte daraus herauszuleſen ſuchſt, gliederſt du<lb/>
dieſes „Alles“ bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬<lb/>
tiefteren Zeit-Maßſtab um — du lieſt gleichſam die Bruchteile<lb/>
der Sekunde Eindruck dieſes nackten Körpers wieder hinein mit<lb/>
Hilfe eines beſtimmten wunderbaren Traumes, über den ſich<lb/>
die Menſchheit als „Realität“ſo ziemlich geeinigt hat: der<lb/>
Wiſſenſchaft. Im Detail iſt es ja vielfach noch ſo eine Sache<lb/>ſogar mit dieſer Einigung, und mancher wird das, was der<lb/>
eine ſchon für Wiſſenſchaft hält, noch ſchlechtweg und mit böſem<lb/>
Sinne Traum nennen. Das ſei aber nun einerlei. Schließlich<lb/>
iſt ja das ganze greifbare Ungetüm, das wir „Wirklichkeit“<lb/>
nennen, überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft<lb/>
der ſozial lebenden Kulturmenſchheit von etwa fünftauſend<lb/>
Jahren gleichſam konventionell anerkannter „Einzeltraum“ unter<lb/>
vielen — der logiſch beſte, glatteſte, am häufigſten bei vielen<lb/>
gleichartig wiederkehrende und alſo ſozial am einfachſten zu<lb/>
berechnende und zu verwertende Traum! Wobei denn immer<lb/>
noch kleine Grenzſtreitigkeiten mit unterlaufen mögen .....</p><lb/><p>Über die darfſt du dir nicht allzu viel graue Haare wachſen<lb/>
laſſen.</p><lb/><p>Die Hauptſache iſt, daß du heute noch hier mit deinem<lb/>
warmen lebendigen liebesreifen Leibe an dieſem hellen Maien¬<lb/>
tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur erſten<lb/></p></div></body></text></TEI>
[112/0128]
Und daß alle deine Geſchichts- und Naturforſchung ins Detail
des Alten und entwickelungsgeſchichtlich Früheren hinein eigentlich
nichts iſt, als ein Verſuch, in dein Augenblicksſehen, das alles
in eins ſieht, wieder etwas von jenem feineren Sekunden-
Maßſtab zurückzubringen, auf daß das engere Entwickelungs-
Gewebe noch einmal ſichtbar werde?
Du ſchauſt deinen nackten Leib an. Als ein einheitliches
Momentbild blitzt er in deine Seele. Aber in dieſem nackten
Leibe iſt in Wahrheit alles umſchloſſen, was zwiſchen Nebel¬
fleck und Menſch liegt. Es iſt in ein Schlußbild zuſammen¬
faſſend gezwängt — aber darin iſt alles. Indem du die
ganze Vorgeſchichte daraus herauszuleſen ſuchſt, gliederſt du
dieſes „Alles“ bloß dir Stück um Stück wieder in einen ver¬
tiefteren Zeit-Maßſtab um — du lieſt gleichſam die Bruchteile
der Sekunde Eindruck dieſes nackten Körpers wieder hinein mit
Hilfe eines beſtimmten wunderbaren Traumes, über den ſich
die Menſchheit als „Realität“ ſo ziemlich geeinigt hat: der
Wiſſenſchaft. Im Detail iſt es ja vielfach noch ſo eine Sache
ſogar mit dieſer Einigung, und mancher wird das, was der
eine ſchon für Wiſſenſchaft hält, noch ſchlechtweg und mit böſem
Sinne Traum nennen. Das ſei aber nun einerlei. Schließlich
iſt ja das ganze greifbare Ungetüm, das wir „Wirklichkeit“
nennen, überhaupt nichts anderes als ein durch Übereinkunft
der ſozial lebenden Kulturmenſchheit von etwa fünftauſend
Jahren gleichſam konventionell anerkannter „Einzeltraum“ unter
vielen — der logiſch beſte, glatteſte, am häufigſten bei vielen
gleichartig wiederkehrende und alſo ſozial am einfachſten zu
berechnende und zu verwertende Traum! Wobei denn immer
noch kleine Grenzſtreitigkeiten mit unterlaufen mögen .....
Über die darfſt du dir nicht allzu viel graue Haare wachſen
laſſen.
Die Hauptſache iſt, daß du heute noch hier mit deinem
warmen lebendigen liebesreifen Leibe an dieſem hellen Maien¬
tag die ganze Entwickelungslinie vom Urnebel bis zur erſten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/128>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.