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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Und im Traum hat wohl jeder schon mitgemacht, daß er einer
langen, komplizierten Handlung folgt, die im Wachen viele
Stunden, ja Tage in Anspruch nähme -- wenn du aber hinter¬
her auf die Uhr siehst, so bist du kaum so lange eingenickt
gewesen, als eine Uhr zwölf schlägt. Auf diesen letzteren Sach¬
verhalt führt sich (nebenbei gesagt) wohl auch jene oft beob¬
achtete Traumthatsache zurück: wir träumen eine lange Hand¬
lung, die auf einen Donnerschlag oder Schuß abzielt, vielleicht
das Aufsteigen eines Gewitters oder Vorbereitungen zu einer
Pulverexplosion oder ähnliches -- endlich kommt auch der
Schlag ... in diesem Moment aber erwachen wir und hören
wirklich einen lauten Ton, etwa den Schlag des weckenden
Hausknechts gegen unsere Zimmerthür. Man fragt sich, wie
das möglich war. Haben wir prophetisch geträumt? In Wahr¬
heit hat sich die ganze Traumerfindung einfach innerhalb des
winzigen Zeitbruchteils erst angesponnen und bewegt, die der
Klopflaut selber umfaßt; im Wachen empfinden wir ihn als
eine einzige momentane Schallempfindung; der Traum aber hat
mit seinem schnelleren Zeitmaßstab eine lange Folgekette von
Ereignissen zwischen seinen Anfang und sein Ende hinein¬
gedichtet.

Solche Verschiebungen ließen sich nun leicht auch umgekehrt
nicht bloß ins Kleine, sondern auch ins Große hineindenken.
Stelle dir einen Zeit-Maßstab vor, bei dem ein Jahr etwa
das Wesen einer Sekunde annähme. Alle seine Vorgänge
drängten sich einem Auge, das so empfände, in einen einzigen
Moment, in einen "Augenblick" einheitlich zusammen. Was
aber von Jahren gelten mag, ließe sich schließlich auch ganz
genau so gut von Jahrhunderten, Jahrtausenden, ja von Jahr¬
millionen ausdenken. Da sähe ein Auge in ein einziges Mo¬
mentbild verschmolzen unermeßliche Entwickelungsketten, von
Nebelflecken bis zu Planeten mit Menschenkunst und Menschen¬
liebe. Hast du aber wohl einmal daran gedacht, daß du mit
deinen Menschenaugen in gewissem Sinne wirklich so siehst?

Und im Traum hat wohl jeder ſchon mitgemacht, daß er einer
langen, komplizierten Handlung folgt, die im Wachen viele
Stunden, ja Tage in Anſpruch nähme — wenn du aber hinter¬
her auf die Uhr ſiehſt, ſo biſt du kaum ſo lange eingenickt
geweſen, als eine Uhr zwölf ſchlägt. Auf dieſen letzteren Sach¬
verhalt führt ſich (nebenbei geſagt) wohl auch jene oft beob¬
achtete Traumthatſache zurück: wir träumen eine lange Hand¬
lung, die auf einen Donnerſchlag oder Schuß abzielt, vielleicht
das Aufſteigen eines Gewitters oder Vorbereitungen zu einer
Pulverexploſion oder ähnliches — endlich kommt auch der
Schlag ... in dieſem Moment aber erwachen wir und hören
wirklich einen lauten Ton, etwa den Schlag des weckenden
Hausknechts gegen unſere Zimmerthür. Man fragt ſich, wie
das möglich war. Haben wir prophetiſch geträumt? In Wahr¬
heit hat ſich die ganze Traumerfindung einfach innerhalb des
winzigen Zeitbruchteils erſt angeſponnen und bewegt, die der
Klopflaut ſelber umfaßt; im Wachen empfinden wir ihn als
eine einzige momentane Schallempfindung; der Traum aber hat
mit ſeinem ſchnelleren Zeitmaßſtab eine lange Folgekette von
Ereigniſſen zwiſchen ſeinen Anfang und ſein Ende hinein¬
gedichtet.

Solche Verſchiebungen ließen ſich nun leicht auch umgekehrt
nicht bloß ins Kleine, ſondern auch ins Große hineindenken.
Stelle dir einen Zeit-Maßſtab vor, bei dem ein Jahr etwa
das Weſen einer Sekunde annähme. Alle ſeine Vorgänge
drängten ſich einem Auge, das ſo empfände, in einen einzigen
Moment, in einen „Augenblick“ einheitlich zuſammen. Was
aber von Jahren gelten mag, ließe ſich ſchließlich auch ganz
genau ſo gut von Jahrhunderten, Jahrtauſenden, ja von Jahr¬
millionen ausdenken. Da ſähe ein Auge in ein einziges Mo¬
mentbild verſchmolzen unermeßliche Entwickelungsketten, von
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[111/0127] Und im Traum hat wohl jeder ſchon mitgemacht, daß er einer langen, komplizierten Handlung folgt, die im Wachen viele Stunden, ja Tage in Anſpruch nähme — wenn du aber hinter¬ her auf die Uhr ſiehſt, ſo biſt du kaum ſo lange eingenickt geweſen, als eine Uhr zwölf ſchlägt. Auf dieſen letzteren Sach¬ verhalt führt ſich (nebenbei geſagt) wohl auch jene oft beob¬ achtete Traumthatſache zurück: wir träumen eine lange Hand¬ lung, die auf einen Donnerſchlag oder Schuß abzielt, vielleicht das Aufſteigen eines Gewitters oder Vorbereitungen zu einer Pulverexploſion oder ähnliches — endlich kommt auch der Schlag ... in dieſem Moment aber erwachen wir und hören wirklich einen lauten Ton, etwa den Schlag des weckenden Hausknechts gegen unſere Zimmerthür. Man fragt ſich, wie das möglich war. Haben wir prophetiſch geträumt? In Wahr¬ heit hat ſich die ganze Traumerfindung einfach innerhalb des winzigen Zeitbruchteils erſt angeſponnen und bewegt, die der Klopflaut ſelber umfaßt; im Wachen empfinden wir ihn als eine einzige momentane Schallempfindung; der Traum aber hat mit ſeinem ſchnelleren Zeitmaßſtab eine lange Folgekette von Ereigniſſen zwiſchen ſeinen Anfang und ſein Ende hinein¬ gedichtet. Solche Verſchiebungen ließen ſich nun leicht auch umgekehrt nicht bloß ins Kleine, ſondern auch ins Große hineindenken. Stelle dir einen Zeit-Maßſtab vor, bei dem ein Jahr etwa das Weſen einer Sekunde annähme. Alle ſeine Vorgänge drängten ſich einem Auge, das ſo empfände, in einen einzigen Moment, in einen „Augenblick“ einheitlich zuſammen. Was aber von Jahren gelten mag, ließe ſich ſchließlich auch ganz genau ſo gut von Jahrhunderten, Jahrtauſenden, ja von Jahr¬ millionen ausdenken. Da ſähe ein Auge in ein einziges Mo¬ mentbild verſchmolzen unermeßliche Entwickelungsketten, von Nebelflecken bis zu Planeten mit Menſchenkunſt und Menſchen¬ liebe. Haſt du aber wohl einmal daran gedacht, daß du mit deinen Menſchenaugen in gewiſſem Sinne wirklich ſo ſiehſt?

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/127>, abgerufen am 24.11.2024.