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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Du merkst wohl, was dein Leib, der alte Weise, dir
eigentlich erzählt hat.

Im Bilde dessen, was du bist, hat er dir gezeigt, wo du
herstammst. Die Sortiermaschine, in der er dich weidlich hin
und her geworfen hat, bis du endlich beim Affen herauskamst,
ist in Wahrheit dein Stammbaum, das große heilige Pergament,
das dir deine Ahnenreihe verbrieft. Er steht nicht in irgend
welchen Phantasieen und visionären Träumen, sondern dein
Leib selber lebt ihn noch heute in dir.

Es ist eine ewige Gegenwart wirklich in den Dingen.
Alles Gewordene schließt wie Jahresringe sein eigenes Werden
ein. Nur dein Auge muß den Maßstab langsam dafür finden.
Das Geistesauge der Menschheit nähert sich heute unverkennbar
dem Punkte, wo auf langem Umweg durch tausend Einzelheiten
der Forschung etwas derart sich auch bei ihm eingestellt. Es
ist gleichsam, als strecke sich unser Zeitbegriff.

Der Zeitbegriff ist ja etwas ganz relatives. Man kann
ihn sich verengt und erweitert denken. Zum Beispiel du als
Mensch in deinem gewöhnlichen Lebenszustande empfindest alles,
was innerhalb etwa einer Sekunde liegt, als Eins, als Gleich¬
zeitiges, als "Augenblick". Trotzdem kann sich in solcher Se¬
kunde zweifellos unendlich viel hintereinander abspielen, und rein
gedanklich kannst du sie als Kreis eines ungeheuren Zifferblattes
denken, auf dem der Zeiger genau so Schritt für Schritt dahin
tickt wie der gröbere Zeiger deiner Stundenuhr. Wenn du dir
denkst, dein Empfindungsvermögen sei plötzlich sehr verfeinert,
so wäre nichts besonderes dabei, daß du wirklich in einer
Sekunde eine Unmasse Vorgänge um dich her wohl geordnet
nacheinander aufmarschieren sähest. Die Sekunde würde dir
dann einfach stundenlang vorkommen. Es scheint sogar geradezu,
daß unser Aufmerkungsvermögen in gewissen besonderen Lagen
derartig erregt werden kann, daß es sich vorübergehend wirklich
so stellt. In höchsten Gefahrmomenten erleben wir lange Ketten
von Vorgängen, die uns endlos dünken, in einer Sekunde.

Du merkſt wohl, was dein Leib, der alte Weiſe, dir
eigentlich erzählt hat.

Im Bilde deſſen, was du biſt, hat er dir gezeigt, wo du
herſtammſt. Die Sortiermaſchine, in der er dich weidlich hin
und her geworfen hat, bis du endlich beim Affen herauskamſt,
iſt in Wahrheit dein Stammbaum, das große heilige Pergament,
das dir deine Ahnenreihe verbrieft. Er ſteht nicht in irgend
welchen Phantaſieen und viſionären Träumen, ſondern dein
Leib ſelber lebt ihn noch heute in dir.

Es iſt eine ewige Gegenwart wirklich in den Dingen.
Alles Gewordene ſchließt wie Jahresringe ſein eigenes Werden
ein. Nur dein Auge muß den Maßſtab langſam dafür finden.
Das Geiſtesauge der Menſchheit nähert ſich heute unverkennbar
dem Punkte, wo auf langem Umweg durch tauſend Einzelheiten
der Forſchung etwas derart ſich auch bei ihm eingeſtellt. Es
iſt gleichſam, als ſtrecke ſich unſer Zeitbegriff.

Der Zeitbegriff iſt ja etwas ganz relatives. Man kann
ihn ſich verengt und erweitert denken. Zum Beiſpiel du als
Menſch in deinem gewöhnlichen Lebenszuſtande empfindeſt alles,
was innerhalb etwa einer Sekunde liegt, als Eins, als Gleich¬
zeitiges, als „Augenblick“. Trotzdem kann ſich in ſolcher Se¬
kunde zweifellos unendlich viel hintereinander abſpielen, und rein
gedanklich kannſt du ſie als Kreis eines ungeheuren Zifferblattes
denken, auf dem der Zeiger genau ſo Schritt für Schritt dahin
tickt wie der gröbere Zeiger deiner Stundenuhr. Wenn du dir
denkſt, dein Empfindungsvermögen ſei plötzlich ſehr verfeinert,
ſo wäre nichts beſonderes dabei, daß du wirklich in einer
Sekunde eine Unmaſſe Vorgänge um dich her wohl geordnet
nacheinander aufmarſchieren ſäheſt. Die Sekunde würde dir
dann einfach ſtundenlang vorkommen. Es ſcheint ſogar geradezu,
daß unſer Aufmerkungsvermögen in gewiſſen beſonderen Lagen
derartig erregt werden kann, daß es ſich vorübergehend wirklich
ſo ſtellt. In höchſten Gefahrmomenten erleben wir lange Ketten
von Vorgängen, die uns endlos dünken, in einer Sekunde.

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[110/0126] Du merkſt wohl, was dein Leib, der alte Weiſe, dir eigentlich erzählt hat. Im Bilde deſſen, was du biſt, hat er dir gezeigt, wo du herſtammſt. Die Sortiermaſchine, in der er dich weidlich hin und her geworfen hat, bis du endlich beim Affen herauskamſt, iſt in Wahrheit dein Stammbaum, das große heilige Pergament, das dir deine Ahnenreihe verbrieft. Er ſteht nicht in irgend welchen Phantaſieen und viſionären Träumen, ſondern dein Leib ſelber lebt ihn noch heute in dir. Es iſt eine ewige Gegenwart wirklich in den Dingen. Alles Gewordene ſchließt wie Jahresringe ſein eigenes Werden ein. Nur dein Auge muß den Maßſtab langſam dafür finden. Das Geiſtesauge der Menſchheit nähert ſich heute unverkennbar dem Punkte, wo auf langem Umweg durch tauſend Einzelheiten der Forſchung etwas derart ſich auch bei ihm eingeſtellt. Es iſt gleichſam, als ſtrecke ſich unſer Zeitbegriff. Der Zeitbegriff iſt ja etwas ganz relatives. Man kann ihn ſich verengt und erweitert denken. Zum Beiſpiel du als Menſch in deinem gewöhnlichen Lebenszuſtande empfindeſt alles, was innerhalb etwa einer Sekunde liegt, als Eins, als Gleich¬ zeitiges, als „Augenblick“. Trotzdem kann ſich in ſolcher Se¬ kunde zweifellos unendlich viel hintereinander abſpielen, und rein gedanklich kannſt du ſie als Kreis eines ungeheuren Zifferblattes denken, auf dem der Zeiger genau ſo Schritt für Schritt dahin tickt wie der gröbere Zeiger deiner Stundenuhr. Wenn du dir denkſt, dein Empfindungsvermögen ſei plötzlich ſehr verfeinert, ſo wäre nichts beſonderes dabei, daß du wirklich in einer Sekunde eine Unmaſſe Vorgänge um dich her wohl geordnet nacheinander aufmarſchieren ſäheſt. Die Sekunde würde dir dann einfach ſtundenlang vorkommen. Es ſcheint ſogar geradezu, daß unſer Aufmerkungsvermögen in gewiſſen beſonderen Lagen derartig erregt werden kann, daß es ſich vorübergehend wirklich ſo ſtellt. In höchſten Gefahrmomenten erleben wir lange Ketten von Vorgängen, die uns endlos dünken, in einer Sekunde.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/126>, abgerufen am 22.11.2024.