logischen Erneuerung unterwerfen, ehe du sie im alten Sinne weiter gebrauchen darfst.
Was dem schlichten Denken der älteren Tage ebenso fehlte wie durchweg dem raffinierten, das war ein Begriff, den wir heute in Fleisch und Blut haben: der Begriff der Entwickelung.
Er fällt im innersten Kern nicht heraus aus dem, was das Wort "ewig" umschließt. Aber über das konkrete Bild unter diesem hallenden Worte gießt er den Zauber unendlichen Wechsels, unendlichen Reichtums aus. In einen gleichmäßig weißen Nebel wirft er ein Lichtband, aus dem auf einmal eine blühende, atmende Landschaft sich erhebt, in der alles in lebendiger Bewegung ist: die Bäume brechen in Knospen auf, die Berge dehnen, recken, zerspalten sich, das Meer schwillt empor und rauscht. Und im tiefen Blau über den veränderten Horizonten blühen neue Sterne, als sei auch im kalten All ein wunderbarer Frühling erwacht.
In jener einen "Nachtwache" der Kulturgeschichte hat die Menschheit in der That gewacht. In dieser Nachtwache haben die Denker gesonnen und gebaut, Instrumente sind er¬ funden worden, Bibliotheken haben sich angehäuft, Museen und Sternwarten sich emporgetürmt. Wenn wir heute, am Ende dieser Nachtwache, sagen, daß der Mensch durch die Zeugung, durch die Liebe am sichtbarsten im "ewigen" Leben des Kosmos hängt, so klingt uns eben in den Begriffen "Mensch" und "Kosmos" selbst die ganze heiße Arbeit der großen Nachtwache mit.
Wir sehen den Kosmos sich dehnen nicht bloß in die dunkle Ewigkeit, die eine Melodie ist, aber kein Bild, sondern in kolossale wirkliche Raumfernen und Zeitfernen hinein. Wir sehen die Menschheit als Ganzes auftauchen in dem ungeheuren greifbar hellen Panorama, das sich unserm Auge in diesem Lichtbande des großen Nebels auseinander schließt.
Und wir ahnen ein Werden auch innerhalb der Liebe. Statt des einfachen Wortes "ewig" treibt es uns, die Liebe zu suchen im werdenden, aus dem blauen Meer der Zeiten
logiſchen Erneuerung unterwerfen, ehe du ſie im alten Sinne weiter gebrauchen darfſt.
Was dem ſchlichten Denken der älteren Tage ebenſo fehlte wie durchweg dem raffinierten, das war ein Begriff, den wir heute in Fleiſch und Blut haben: der Begriff der Entwickelung.
Er fällt im innerſten Kern nicht heraus aus dem, was das Wort „ewig“ umſchließt. Aber über das konkrete Bild unter dieſem hallenden Worte gießt er den Zauber unendlichen Wechſels, unendlichen Reichtums aus. In einen gleichmäßig weißen Nebel wirft er ein Lichtband, aus dem auf einmal eine blühende, atmende Landſchaft ſich erhebt, in der alles in lebendiger Bewegung iſt: die Bäume brechen in Knoſpen auf, die Berge dehnen, recken, zerſpalten ſich, das Meer ſchwillt empor und rauſcht. Und im tiefen Blau über den veränderten Horizonten blühen neue Sterne, als ſei auch im kalten All ein wunderbarer Frühling erwacht.
In jener einen „Nachtwache“ der Kulturgeſchichte hat die Menſchheit in der That gewacht. In dieſer Nachtwache haben die Denker geſonnen und gebaut, Inſtrumente ſind er¬ funden worden, Bibliotheken haben ſich angehäuft, Muſeen und Sternwarten ſich emporgetürmt. Wenn wir heute, am Ende dieſer Nachtwache, ſagen, daß der Menſch durch die Zeugung, durch die Liebe am ſichtbarſten im „ewigen“ Leben des Kosmos hängt, ſo klingt uns eben in den Begriffen „Menſch“ und „Kosmos“ ſelbſt die ganze heiße Arbeit der großen Nachtwache mit.
Wir ſehen den Kosmos ſich dehnen nicht bloß in die dunkle Ewigkeit, die eine Melodie iſt, aber kein Bild, ſondern in koloſſale wirkliche Raumfernen und Zeitfernen hinein. Wir ſehen die Menſchheit als Ganzes auftauchen in dem ungeheuren greifbar hellen Panorama, das ſich unſerm Auge in dieſem Lichtbande des großen Nebels auseinander ſchließt.
Und wir ahnen ein Werden auch innerhalb der Liebe. Statt des einfachen Wortes „ewig“ treibt es uns, die Liebe zu ſuchen im werdenden, aus dem blauen Meer der Zeiten
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0090"n="74"/><hirendition="#g">logiſchen</hi> Erneuerung unterwerfen, ehe du ſie im alten Sinne<lb/>
weiter gebrauchen darfſt.</p><lb/><p>Was dem ſchlichten Denken der älteren Tage ebenſo fehlte<lb/>
wie durchweg dem raffinierten, das war ein Begriff, den <hirendition="#g">wir</hi><lb/>
heute in Fleiſch und Blut haben: der Begriff der Entwickelung.</p><lb/><p>Er fällt im innerſten Kern <hirendition="#g">nicht</hi> heraus aus dem, was<lb/>
das Wort „ewig“ umſchließt. Aber über das konkrete Bild<lb/>
unter dieſem hallenden Worte gießt er den Zauber unendlichen<lb/>
Wechſels, unendlichen Reichtums aus. In einen gleichmäßig<lb/>
weißen Nebel wirft er ein Lichtband, aus dem auf einmal<lb/>
eine blühende, atmende Landſchaft ſich erhebt, in der alles in<lb/>
lebendiger Bewegung iſt: die Bäume brechen in Knoſpen auf,<lb/>
die Berge dehnen, recken, zerſpalten ſich, das Meer ſchwillt<lb/>
empor und rauſcht. Und im tiefen Blau über den veränderten<lb/>
Horizonten blühen neue Sterne, als ſei auch im kalten All<lb/>
ein wunderbarer Frühling erwacht.</p><lb/><p>In jener <hirendition="#g">einen</hi>„Nachtwache“ der Kulturgeſchichte hat<lb/>
die Menſchheit in der That gewacht. In dieſer Nachtwache<lb/>
haben die Denker geſonnen und gebaut, Inſtrumente ſind er¬<lb/>
funden worden, Bibliotheken haben ſich angehäuft, Muſeen und<lb/>
Sternwarten ſich emporgetürmt. Wenn wir heute, am Ende<lb/>
dieſer Nachtwache, ſagen, daß der Menſch durch die Zeugung,<lb/>
durch die Liebe am ſichtbarſten im „ewigen“ Leben des Kosmos<lb/>
hängt, ſo klingt uns eben in den Begriffen „Menſch“ und „Kosmos“<lb/>ſelbſt die ganze heiße Arbeit der großen Nachtwache mit.</p><lb/><p>Wir ſehen den Kosmos ſich dehnen nicht bloß in die<lb/>
dunkle Ewigkeit, die eine Melodie iſt, aber kein Bild, ſondern<lb/>
in koloſſale wirkliche Raumfernen und Zeitfernen hinein. Wir<lb/>ſehen die Menſchheit als Ganzes auftauchen in dem ungeheuren<lb/>
greifbar hellen Panorama, das ſich unſerm Auge in dieſem<lb/>
Lichtbande des großen Nebels auseinander ſchließt.</p><lb/><p>Und wir ahnen ein <hirendition="#g">Werden</hi> auch innerhalb der <hirendition="#g">Liebe</hi>.<lb/>
Statt des einfachen Wortes „ewig“ treibt es uns, die Liebe<lb/>
zu ſuchen im werdenden, aus dem blauen Meer der Zeiten<lb/></p></div></body></text></TEI>
[74/0090]
logiſchen Erneuerung unterwerfen, ehe du ſie im alten Sinne
weiter gebrauchen darfſt.
Was dem ſchlichten Denken der älteren Tage ebenſo fehlte
wie durchweg dem raffinierten, das war ein Begriff, den wir
heute in Fleiſch und Blut haben: der Begriff der Entwickelung.
Er fällt im innerſten Kern nicht heraus aus dem, was
das Wort „ewig“ umſchließt. Aber über das konkrete Bild
unter dieſem hallenden Worte gießt er den Zauber unendlichen
Wechſels, unendlichen Reichtums aus. In einen gleichmäßig
weißen Nebel wirft er ein Lichtband, aus dem auf einmal
eine blühende, atmende Landſchaft ſich erhebt, in der alles in
lebendiger Bewegung iſt: die Bäume brechen in Knoſpen auf,
die Berge dehnen, recken, zerſpalten ſich, das Meer ſchwillt
empor und rauſcht. Und im tiefen Blau über den veränderten
Horizonten blühen neue Sterne, als ſei auch im kalten All
ein wunderbarer Frühling erwacht.
In jener einen „Nachtwache“ der Kulturgeſchichte hat
die Menſchheit in der That gewacht. In dieſer Nachtwache
haben die Denker geſonnen und gebaut, Inſtrumente ſind er¬
funden worden, Bibliotheken haben ſich angehäuft, Muſeen und
Sternwarten ſich emporgetürmt. Wenn wir heute, am Ende
dieſer Nachtwache, ſagen, daß der Menſch durch die Zeugung,
durch die Liebe am ſichtbarſten im „ewigen“ Leben des Kosmos
hängt, ſo klingt uns eben in den Begriffen „Menſch“ und „Kosmos“
ſelbſt die ganze heiße Arbeit der großen Nachtwache mit.
Wir ſehen den Kosmos ſich dehnen nicht bloß in die
dunkle Ewigkeit, die eine Melodie iſt, aber kein Bild, ſondern
in koloſſale wirkliche Raumfernen und Zeitfernen hinein. Wir
ſehen die Menſchheit als Ganzes auftauchen in dem ungeheuren
greifbar hellen Panorama, das ſich unſerm Auge in dieſem
Lichtbande des großen Nebels auseinander ſchließt.
Und wir ahnen ein Werden auch innerhalb der Liebe.
Statt des einfachen Wortes „ewig“ treibt es uns, die Liebe
zu ſuchen im werdenden, aus dem blauen Meer der Zeiten
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/90>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.