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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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suchtsbildern, Schönheitsbildern sah, -- er schuf die bewußte
Kunst im höchsten Zeugungssinne als Kern aller künftigen
menschlichen Naturerweiterung.

Jahrtausende auf diesem Wege: Rafael, die Madonna.
Und so fort und fort. Ein neues Naturreich blüht auf: nicht
Stern, nicht anorganisch, nicht Pflanze oder Tier, nicht im
organischen Sinne Mensch selber -- die Klänge, Gestalten,
Ereignisse der Kunst. Eine heiße Welt, vom Liebesatem
durchglüht, mit allen Schauern wilder Zeugung. Und doch
zugleich verklärt, der Erdentrübe entrückt in einen reinen blauen
Geistesäther hinein .....

"Die Braut verdient sich mehr
Mit einem Kuß um Gott
Als alle Mietlinge
Mit Arbeit bis in Tod."
Angelus Silesius.
[Abbildung]

Das ist die Liebe, die zu etwas geworden ist.

Die Liebe in ihrem Hochbau.

Von hier, von der Goldkuppel mußt du sie sehen, um zu
ahnen, was in ihren Anfängen war. Und dieses Goldlicht
mußt du dir zurückstrahlen lassen in diese Anfänge hinein.
Darum der Tanz der Eintagsfliegen. Darum das groteske
Nachtbild des Häringszuges. Dieselbe Naturkraft, die da unten
in den grauen Urwassern gärt. Und die oben als purpurne
Lotosblüte der Kultur aus dem blauen Spiegel in die Sonne
steigt. Weil es so ist, darum kann alles Vergangene nicht roh
sein. Es muß selber dir wie eine edle Knospe scheinen. Nichts
bleibt da innerlich klein. Licht strömt zurück auf diese Eintags¬
fliegen am Bach, diese Fische im Ozean. Wie dunkel ringende
Urseelen der Liebe treten sie vor dich hin. Vorauf wandernde
Träume des großen Liebesgeistes, der aufwärts will. Dieser
Fisch, diese Eintagsfliege ist Christus, ist Goethe, ist Rafael.
Ist das Evangelium, ist Faust, ist die Madonna. Ist die
Menschenliebe, der Sternentraum, die Kunst.

ſuchtsbildern, Schönheitsbildern ſah, — er ſchuf die bewußte
Kunſt im höchſten Zeugungsſinne als Kern aller künftigen
menſchlichen Naturerweiterung.

Jahrtauſende auf dieſem Wege: Rafael, die Madonna.
Und ſo fort und fort. Ein neues Naturreich blüht auf: nicht
Stern, nicht anorganiſch, nicht Pflanze oder Tier, nicht im
organiſchen Sinne Menſch ſelber — die Klänge, Geſtalten,
Ereigniſſe der Kunſt. Eine heiße Welt, vom Liebesatem
durchglüht, mit allen Schauern wilder Zeugung. Und doch
zugleich verklärt, der Erdentrübe entrückt in einen reinen blauen
Geiſtesäther hinein .....

„Die Braut verdient ſich mehr
Mit einem Kuß um Gott
Als alle Mietlinge
Mit Arbeit bis in Tod.“
Angelus Sileſius.
[Abbildung]

Das iſt die Liebe, die zu etwas geworden iſt.

Die Liebe in ihrem Hochbau.

Von hier, von der Goldkuppel mußt du ſie ſehen, um zu
ahnen, was in ihren Anfängen war. Und dieſes Goldlicht
mußt du dir zurückſtrahlen laſſen in dieſe Anfänge hinein.
Darum der Tanz der Eintagsfliegen. Darum das groteske
Nachtbild des Häringszuges. Dieſelbe Naturkraft, die da unten
in den grauen Urwaſſern gärt. Und die oben als purpurne
Lotosblüte der Kultur aus dem blauen Spiegel in die Sonne
ſteigt. Weil es ſo iſt, darum kann alles Vergangene nicht roh
ſein. Es muß ſelber dir wie eine edle Knoſpe ſcheinen. Nichts
bleibt da innerlich klein. Licht ſtrömt zurück auf dieſe Eintags¬
fliegen am Bach, dieſe Fiſche im Ozean. Wie dunkel ringende
Urſeelen der Liebe treten ſie vor dich hin. Vorauf wandernde
Träume des großen Liebesgeiſtes, der aufwärts will. Dieſer
Fiſch, dieſe Eintagsfliege iſt Chriſtus, iſt Goethe, iſt Rafael.
Iſt das Evangelium, iſt Fauſt, iſt die Madonna. Iſt die
Menſchenliebe, der Sternentraum, die Kunſt.

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[43/0059] ſuchtsbildern, Schönheitsbildern ſah, — er ſchuf die bewußte Kunſt im höchſten Zeugungsſinne als Kern aller künftigen menſchlichen Naturerweiterung. Jahrtauſende auf dieſem Wege: Rafael, die Madonna. Und ſo fort und fort. Ein neues Naturreich blüht auf: nicht Stern, nicht anorganiſch, nicht Pflanze oder Tier, nicht im organiſchen Sinne Menſch ſelber — die Klänge, Geſtalten, Ereigniſſe der Kunſt. Eine heiße Welt, vom Liebesatem durchglüht, mit allen Schauern wilder Zeugung. Und doch zugleich verklärt, der Erdentrübe entrückt in einen reinen blauen Geiſtesäther hinein ..... „Die Braut verdient ſich mehr Mit einem Kuß um Gott Als alle Mietlinge Mit Arbeit bis in Tod.“ Angelus Sileſius. [Abbildung] Das iſt die Liebe, die zu etwas geworden iſt. Die Liebe in ihrem Hochbau. Von hier, von der Goldkuppel mußt du ſie ſehen, um zu ahnen, was in ihren Anfängen war. Und dieſes Goldlicht mußt du dir zurückſtrahlen laſſen in dieſe Anfänge hinein. Darum der Tanz der Eintagsfliegen. Darum das groteske Nachtbild des Häringszuges. Dieſelbe Naturkraft, die da unten in den grauen Urwaſſern gärt. Und die oben als purpurne Lotosblüte der Kultur aus dem blauen Spiegel in die Sonne ſteigt. Weil es ſo iſt, darum kann alles Vergangene nicht roh ſein. Es muß ſelber dir wie eine edle Knoſpe ſcheinen. Nichts bleibt da innerlich klein. Licht ſtrömt zurück auf dieſe Eintags¬ fliegen am Bach, dieſe Fiſche im Ozean. Wie dunkel ringende Urſeelen der Liebe treten ſie vor dich hin. Vorauf wandernde Träume des großen Liebesgeiſtes, der aufwärts will. Dieſer Fiſch, dieſe Eintagsfliege iſt Chriſtus, iſt Goethe, iſt Rafael. Iſt das Evangelium, iſt Fauſt, iſt die Madonna. Iſt die Menſchenliebe, der Sternentraum, die Kunſt.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/59>, abgerufen am 22.11.2024.