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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Empor!

Noch einmal recke deine Flügel aus.

Die Madonna Rafaels giebt dir nochmals Kraft.

Umschließe sie noch einmal ganz mit deinem Blick: in
ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit
ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬
tausende zusammenzufließen scheint -- sie, die Menschheit ist
und Weltgeheimnis ist.

Woher stammt dieses Wunderwerk, das die alte Erde
nun seit fast vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo
wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen
Weltengarten zwischen Menschenauge und Doppelstern?

Es ist Kunst.

Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer
Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine
Fläche mit Farben gemalt wie dieses. Die anderen in Marmor
zu ganzem Umriß ausgeformt. Die milesische Venus mit ihrer
aufrecht starken, unbesiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel
Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid schmilzt.
Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von
Florenz, die alles Süßeste als genossen noch einmal träumt.
Eine enge, innerlich verwandte Genossenschaft, die in stiller
Schöne hier und dort aus der schnellen, wechselnden, grau ab¬
strömenden Flut der Menschengenerationen ragt.

Keines dieser Weiber hat im einfach menschlichen Sinne
je "gelebt". Keines ist erzeugt durch den körperlichen Akt
organischer Fortpflanzung. Und doch stehen sie in all ihrer
Schöne mitten unter uns. Sie stehen da, erzeugt aus einer
unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen
Hingabe eines menschlichen Individuums an ein Neues, ein
Zweites, an ein "Schaffen", eine Übertragung des höchsten
Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den
Tod dieses Ich überleben soll. Mit dem Geiste und der vom
Geiste bis in jede feinste Muskel durchwärmten Hand sind sie

Empor!

Noch einmal recke deine Flügel aus.

Die Madonna Rafaels giebt dir nochmals Kraft.

Umſchließe ſie noch einmal ganz mit deinem Blick: in
ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit
ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬
tauſende zuſammenzufließen ſcheint — ſie, die Menſchheit iſt
und Weltgeheimnis iſt.

Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde
nun ſeit faſt vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo
wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen
Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelſtern?

Es iſt Kunſt.

Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer
Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine
Fläche mit Farben gemalt wie dieſes. Die anderen in Marmor
zu ganzem Umriß ausgeformt. Die mileſiſche Venus mit ihrer
aufrecht ſtarken, unbeſiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel
Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid ſchmilzt.
Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von
Florenz, die alles Süßeſte als genoſſen noch einmal träumt.
Eine enge, innerlich verwandte Genoſſenſchaft, die in ſtiller
Schöne hier und dort aus der ſchnellen, wechſelnden, grau ab¬
ſtrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt.

Keines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne
je „gelebt“. Keines iſt erzeugt durch den körperlichen Akt
organiſcher Fortpflanzung. Und doch ſtehen ſie in all ihrer
Schöne mitten unter uns. Sie ſtehen da, erzeugt aus einer
unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen
Hingabe eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein
Zweites, an ein „Schaffen“, eine Übertragung des höchſten
Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den
Tod dieſes Ich überleben ſoll. Mit dem Geiſte und der vom
Geiſte bis in jede feinſte Muskel durchwärmten Hand ſind ſie

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[40/0056] Empor! Noch einmal recke deine Flügel aus. Die Madonna Rafaels giebt dir nochmals Kraft. Umſchließe ſie noch einmal ganz mit deinem Blick: in ihrem goldenen Rahmen, mit ihren wunderbaren Farben, mit ihrem Antlitz, in dem alle weibliche Schönheit der Jahr¬ tauſende zuſammenzufließen ſcheint — ſie, die Menſchheit iſt und Weltgeheimnis iſt. Woher ſtammt dieſes Wunderwerk, das die alte Erde nun ſeit faſt vierhundert Jahren um die Sonne trägt? Wo wuchs es heraus aus dem Stammbaum der Dinge im großen Weltengarten zwiſchen Menſchenauge und Doppelſtern? Es iſt Kunſt. Von der Madonna gleitet dein Blick hinüber zu einer Schar ähnlich vollkommener Weiber. Die einen auf eine Fläche mit Farben gemalt wie dieſes. Die anderen in Marmor zu ganzem Umriß ausgeformt. Die mileſiſche Venus mit ihrer aufrecht ſtarken, unbeſiegbar heiteren Reine. Die Pieta Michel Angelos, deren Gigantenkraft in liebendem Mitleid ſchmilzt. Die morgenhelle nackte Venus des Tizian in der Tribuna von Florenz, die alles Süßeſte als genoſſen noch einmal träumt. Eine enge, innerlich verwandte Genoſſenſchaft, die in ſtiller Schöne hier und dort aus der ſchnellen, wechſelnden, grau ab¬ ſtrömenden Flut der Menſchengenerationen ragt. Keines dieſer Weiber hat im einfach menſchlichen Sinne je „gelebt“. Keines iſt erzeugt durch den körperlichen Akt organiſcher Fortpflanzung. Und doch ſtehen ſie in all ihrer Schöne mitten unter uns. Sie ſtehen da, erzeugt aus einer unendlichen lodernden Liebe heraus, aus der vollkommenen Hingabe eines menſchlichen Individuums an ein Neues, ein Zweites, an ein „Schaffen“, eine Übertragung des höchſten Ideals im eigenen Ich auf ein anderes, dauerndes, das den Tod dieſes Ich überleben ſoll. Mit dem Geiſte und der vom Geiſte bis in jede feinſte Muskel durchwärmten Hand ſind ſie

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/56>, abgerufen am 22.11.2024.