Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Peterskuppel Michel Angelos, in deren strahlendem Lichtbau
nicht bloß die Leiber vergänglicher Individuen, sondern los¬
gelöst zu einer Art höheren Lebens die Gedanken von Jahr¬
tausenden wohnen.

In der Prometheusschmiede der Menschheit, da das über¬
kommene dunkle Erz in der Geistesflamme zu neuem Dasein
schmolz, ward die blinde Gier und Brunst der einfachen Ge¬
schlechtsliebe zu einer allumfassenden Kraft und Sehnsucht von
höherer, neuer, vergeistigter Art.

Der Zwang, der die Geschlechter zu einander trieb, der
das Individuum aufgehen ließ in der Gattung: er wuchs in
unendlichem Wandel herauf bis zu einem Sehnen nach gemein¬
samem Zusammenschluß Aller auf Grund idealer Liebe und bis
zu der Kraft zu solchem Zusammenschluß.

Die unendliche Seligkeit, das vollkommene Welt- und
Schmerz- und Todvergessen der vereinigten Geschlechtsindividuen
verschmolz mit der Sehnsucht nach einer Harmonie der ganzen
Welt, einer zum Lichte aufwärts führenden Ordnung im All
noch über die Menschen und ihre Liebe hinaus.

Und neben die Zeugung, die immer neu Lebendiges im
alten Sinne schuf, trat, gestählt durch jenes Sehnen nach
Harmonie, die Kraft eigenen vergeistigten Neuschaffens harmo¬
nischer Gebilde von besonderer Art: in Stein und Farbe, in
rhythmischer Rede und geläutertem Klang formte der Mensch
sich inmitten der alten Natur eine neue, vergeistigte, eigene
Natur.

Die Liebe ward Menschenliebe.

Sie ward eine Triebkraft religiöser Erhebung.

Sie ward Kunst.

Von alle dem erzählt dir auch die Madonna.

Das Kind, das sich an die schöne Brust dieses Weibes
schmiegt, ist nicht mehr bloß ein einfaches Menschenkind, ge¬
zeugt in der liebenden Umarmung zweier Menschen nach dem
alten Gesetze der Natur, das auch den Fisch und die Eintags¬

Peterskuppel Michel Angelos, in deren ſtrahlendem Lichtbau
nicht bloß die Leiber vergänglicher Individuen, ſondern los¬
gelöſt zu einer Art höheren Lebens die Gedanken von Jahr¬
tauſenden wohnen.

In der Prometheusſchmiede der Menſchheit, da das über¬
kommene dunkle Erz in der Geiſtesflamme zu neuem Daſein
ſchmolz, ward die blinde Gier und Brunſt der einfachen Ge¬
ſchlechtsliebe zu einer allumfaſſenden Kraft und Sehnſucht von
höherer, neuer, vergeiſtigter Art.

Der Zwang, der die Geſchlechter zu einander trieb, der
das Individuum aufgehen ließ in der Gattung: er wuchs in
unendlichem Wandel herauf bis zu einem Sehnen nach gemein¬
ſamem Zuſammenſchluß Aller auf Grund idealer Liebe und bis
zu der Kraft zu ſolchem Zuſammenſchluß.

Die unendliche Seligkeit, das vollkommene Welt- und
Schmerz- und Todvergeſſen der vereinigten Geſchlechtsindividuen
verſchmolz mit der Sehnſucht nach einer Harmonie der ganzen
Welt, einer zum Lichte aufwärts führenden Ordnung im All
noch über die Menſchen und ihre Liebe hinaus.

Und neben die Zeugung, die immer neu Lebendiges im
alten Sinne ſchuf, trat, geſtählt durch jenes Sehnen nach
Harmonie, die Kraft eigenen vergeiſtigten Neuſchaffens harmo¬
niſcher Gebilde von beſonderer Art: in Stein und Farbe, in
rhythmiſcher Rede und geläutertem Klang formte der Menſch
ſich inmitten der alten Natur eine neue, vergeiſtigte, eigene
Natur.

Die Liebe ward Menſchenliebe.

Sie ward eine Triebkraft religiöſer Erhebung.

Sie ward Kunſt.

Von alle dem erzählt dir auch die Madonna.

Das Kind, das ſich an die ſchöne Bruſt dieſes Weibes
ſchmiegt, iſt nicht mehr bloß ein einfaches Menſchenkind, ge¬
zeugt in der liebenden Umarmung zweier Menſchen nach dem
alten Geſetze der Natur, das auch den Fiſch und die Eintags¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0046" n="30"/>
Peterskuppel Michel Angelos, in deren &#x017F;trahlendem Lichtbau<lb/>
nicht bloß die Leiber vergänglicher Individuen, &#x017F;ondern los¬<lb/>
gelö&#x017F;t zu einer Art höheren Lebens die Gedanken von Jahr¬<lb/>
tau&#x017F;enden wohnen.</p><lb/>
        <p>In der Prometheus&#x017F;chmiede der Men&#x017F;chheit, da das über¬<lb/>
kommene dunkle Erz in der Gei&#x017F;tesflamme zu neuem Da&#x017F;ein<lb/>
&#x017F;chmolz, ward die blinde Gier und Brun&#x017F;t der einfachen Ge¬<lb/>
&#x017F;chlechtsliebe zu einer allumfa&#x017F;&#x017F;enden Kraft und Sehn&#x017F;ucht von<lb/>
höherer, neuer, vergei&#x017F;tigter Art.</p><lb/>
        <p>Der Zwang, der die Ge&#x017F;chlechter zu einander trieb, der<lb/>
das Individuum aufgehen ließ in der Gattung: er wuchs in<lb/>
unendlichem Wandel herauf bis zu einem Sehnen nach gemein¬<lb/>
&#x017F;amem Zu&#x017F;ammen&#x017F;chluß Aller auf Grund idealer Liebe und bis<lb/>
zu der Kraft zu &#x017F;olchem Zu&#x017F;ammen&#x017F;chluß.</p><lb/>
        <p>Die unendliche Seligkeit, das vollkommene Welt- und<lb/>
Schmerz- und Todverge&#x017F;&#x017F;en der vereinigten Ge&#x017F;chlechtsindividuen<lb/>
ver&#x017F;chmolz mit der Sehn&#x017F;ucht nach einer Harmonie der ganzen<lb/>
Welt, einer zum Lichte aufwärts führenden Ordnung im All<lb/>
noch über die Men&#x017F;chen und ihre Liebe hinaus.</p><lb/>
        <p>Und neben die Zeugung, die immer neu Lebendiges im<lb/>
alten Sinne &#x017F;chuf, trat, ge&#x017F;tählt durch jenes Sehnen nach<lb/>
Harmonie, die Kraft eigenen vergei&#x017F;tigten Neu&#x017F;chaffens harmo¬<lb/>
ni&#x017F;cher Gebilde von be&#x017F;onderer Art: in Stein und Farbe, in<lb/>
rhythmi&#x017F;cher Rede und geläutertem Klang formte der Men&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;ich inmitten der alten Natur eine neue, vergei&#x017F;tigte, eigene<lb/>
Natur.</p><lb/>
        <p>Die Liebe ward Men&#x017F;chenliebe.</p><lb/>
        <p>Sie ward eine Triebkraft religiö&#x017F;er Erhebung.</p><lb/>
        <p>Sie ward Kun&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Von alle dem erzählt dir auch die Madonna.</p><lb/>
        <p>Das Kind, das &#x017F;ich an die &#x017F;chöne Bru&#x017F;t die&#x017F;es Weibes<lb/>
&#x017F;chmiegt, i&#x017F;t nicht mehr bloß ein einfaches Men&#x017F;chenkind, ge¬<lb/>
zeugt in der liebenden Umarmung zweier Men&#x017F;chen nach dem<lb/>
alten Ge&#x017F;etze der Natur, das auch den Fi&#x017F;ch und die Eintags¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0046] Peterskuppel Michel Angelos, in deren ſtrahlendem Lichtbau nicht bloß die Leiber vergänglicher Individuen, ſondern los¬ gelöſt zu einer Art höheren Lebens die Gedanken von Jahr¬ tauſenden wohnen. In der Prometheusſchmiede der Menſchheit, da das über¬ kommene dunkle Erz in der Geiſtesflamme zu neuem Daſein ſchmolz, ward die blinde Gier und Brunſt der einfachen Ge¬ ſchlechtsliebe zu einer allumfaſſenden Kraft und Sehnſucht von höherer, neuer, vergeiſtigter Art. Der Zwang, der die Geſchlechter zu einander trieb, der das Individuum aufgehen ließ in der Gattung: er wuchs in unendlichem Wandel herauf bis zu einem Sehnen nach gemein¬ ſamem Zuſammenſchluß Aller auf Grund idealer Liebe und bis zu der Kraft zu ſolchem Zuſammenſchluß. Die unendliche Seligkeit, das vollkommene Welt- und Schmerz- und Todvergeſſen der vereinigten Geſchlechtsindividuen verſchmolz mit der Sehnſucht nach einer Harmonie der ganzen Welt, einer zum Lichte aufwärts führenden Ordnung im All noch über die Menſchen und ihre Liebe hinaus. Und neben die Zeugung, die immer neu Lebendiges im alten Sinne ſchuf, trat, geſtählt durch jenes Sehnen nach Harmonie, die Kraft eigenen vergeiſtigten Neuſchaffens harmo¬ niſcher Gebilde von beſonderer Art: in Stein und Farbe, in rhythmiſcher Rede und geläutertem Klang formte der Menſch ſich inmitten der alten Natur eine neue, vergeiſtigte, eigene Natur. Die Liebe ward Menſchenliebe. Sie ward eine Triebkraft religiöſer Erhebung. Sie ward Kunſt. Von alle dem erzählt dir auch die Madonna. Das Kind, das ſich an die ſchöne Bruſt dieſes Weibes ſchmiegt, iſt nicht mehr bloß ein einfaches Menſchenkind, ge¬ zeugt in der liebenden Umarmung zweier Menſchen nach dem alten Geſetze der Natur, das auch den Fiſch und die Eintags¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/46
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/46>, abgerufen am 27.11.2024.