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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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zunächst isolierende Individualisierungsprinzip scheint durchaus
der höhere Weg. Im ganzen, ja! Aber doch deutlich, daß
zu Schäden auch das, wenn zu extrem. Isolierung geht ge¬
legentlich so weit, daß die Geschlechter fast ganz auseinander
getrieben werden. Nur noch widerwillige, gefährdete Be¬
gattungsmomente, kein Liebesleben mehr. Spinnengatten, die
sich fressen. Das Stichlingweib, das wie eine Prostituierte
herangerufen, alsbald aber wieder verscheucht wird. So auch
hier etwas Verkehrtes. Aber doch Brücke zu Höherem. Über
berechtigte Individualisierung und Trennung auch der Geschlechts¬
individuen hinweg neue Form der Gemeinschaft. Jungenpflege!
Elterngefühle verlängern das Zusammensein der Elternindivi¬
duen vorwärts über den Begattungsmoment hinaus. Darüber
erhält das Gute, das doch im Kern auch des anderen Prinzipes
(der Geschlechtseinigung) lag, eine neue, höhere, idealisierte
Macht. Es erwächst ein freies, der Individualität im ganzen
doch noch gerecht bleibendes Zusammensein der Eltern auch in
der eigentlichen, noch kinderlosen Geschlechtsaktzeit, -- ein
absoluter Friedensschluß der Geschlechter, der doch allem Zu¬
sammenwachsen sternenfern bleibt, vielmehr die Färbung eines
höheren vergeistigten Sozialverbandes wahrt: -- -- die Ehe.

Siehst du sie in dieser Weise tiergeschichtlich an, so siehst
du auch sofort ihre noch heute und bei uns thätigen Rückfall¬
gefahren. Die schwerste ist die doch wieder einreißende Ver¬
gewaltigung des einen Geschlechts. Rückfall gegen den Typus
Bonellia oder Wurzelkrebs. Dort waren die Männchen das
Degenerierte. Es kann aber auch das Weib die Rolle über¬
nehmen. Bei der Spinne ist das Weib noch physisch stärker.
Beim Stichling schon nicht mehr. Nun denke, wo die tierische
Entwickelung in den Lichtkreis "Mensch" trat. Mit einem
schwächeren Weibe! Ahnst du den großen Kampf, den die
Menschheit kämpfen mußte?

Mit der Menschheit ging alles aufs Licht. Alles Über¬
kommene wird unter tausend Kämpfen verklärt. Die Ehe ver¬

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zunächſt iſolierende Individualiſierungsprinzip ſcheint durchaus
der höhere Weg. Im ganzen, ja! Aber doch deutlich, daß
zu Schäden auch das, wenn zu extrem. Iſolierung geht ge¬
legentlich ſo weit, daß die Geſchlechter faſt ganz auseinander
getrieben werden. Nur noch widerwillige, gefährdete Be¬
gattungsmomente, kein Liebesleben mehr. Spinnengatten, die
ſich freſſen. Das Stichlingweib, das wie eine Proſtituierte
herangerufen, alsbald aber wieder verſcheucht wird. So auch
hier etwas Verkehrtes. Aber doch Brücke zu Höherem. Über
berechtigte Individualiſierung und Trennung auch der Geſchlechts¬
individuen hinweg neue Form der Gemeinſchaft. Jungenpflege!
Elterngefühle verlängern das Zuſammenſein der Elternindivi¬
duen vorwärts über den Begattungsmoment hinaus. Darüber
erhält das Gute, das doch im Kern auch des anderen Prinzipes
(der Geſchlechtseinigung) lag, eine neue, höhere, idealiſierte
Macht. Es erwächſt ein freies, der Individualität im ganzen
doch noch gerecht bleibendes Zuſammenſein der Eltern auch in
der eigentlichen, noch kinderloſen Geſchlechtsaktzeit, — ein
abſoluter Friedensſchluß der Geſchlechter, der doch allem Zu¬
ſammenwachſen ſternenfern bleibt, vielmehr die Färbung eines
höheren vergeiſtigten Sozialverbandes wahrt: — — die Ehe.

Siehſt du ſie in dieſer Weiſe tiergeſchichtlich an, ſo ſiehſt
du auch ſofort ihre noch heute und bei uns thätigen Rückfall¬
gefahren. Die ſchwerſte iſt die doch wieder einreißende Ver¬
gewaltigung des einen Geſchlechts. Rückfall gegen den Typus
Bonellia oder Wurzelkrebs. Dort waren die Männchen das
Degenerierte. Es kann aber auch das Weib die Rolle über¬
nehmen. Bei der Spinne iſt das Weib noch phyſiſch ſtärker.
Beim Stichling ſchon nicht mehr. Nun denke, wo die tieriſche
Entwickelung in den Lichtkreis „Menſch“ trat. Mit einem
ſchwächeren Weibe! Ahnſt du den großen Kampf, den die
Menſchheit kämpfen mußte?

Mit der Menſchheit ging alles aufs Licht. Alles Über¬
kommene wird unter tauſend Kämpfen verklärt. Die Ehe ver¬

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[355/0371] zunächſt iſolierende Individualiſierungsprinzip ſcheint durchaus der höhere Weg. Im ganzen, ja! Aber doch deutlich, daß zu Schäden auch das, wenn zu extrem. Iſolierung geht ge¬ legentlich ſo weit, daß die Geſchlechter faſt ganz auseinander getrieben werden. Nur noch widerwillige, gefährdete Be¬ gattungsmomente, kein Liebesleben mehr. Spinnengatten, die ſich freſſen. Das Stichlingweib, das wie eine Proſtituierte herangerufen, alsbald aber wieder verſcheucht wird. So auch hier etwas Verkehrtes. Aber doch Brücke zu Höherem. Über berechtigte Individualiſierung und Trennung auch der Geſchlechts¬ individuen hinweg neue Form der Gemeinſchaft. Jungenpflege! Elterngefühle verlängern das Zuſammenſein der Elternindivi¬ duen vorwärts über den Begattungsmoment hinaus. Darüber erhält das Gute, das doch im Kern auch des anderen Prinzipes (der Geſchlechtseinigung) lag, eine neue, höhere, idealiſierte Macht. Es erwächſt ein freies, der Individualität im ganzen doch noch gerecht bleibendes Zuſammenſein der Eltern auch in der eigentlichen, noch kinderloſen Geſchlechtsaktzeit, — ein abſoluter Friedensſchluß der Geſchlechter, der doch allem Zu¬ ſammenwachſen ſternenfern bleibt, vielmehr die Färbung eines höheren vergeiſtigten Sozialverbandes wahrt: — — die Ehe. Siehſt du ſie in dieſer Weiſe tiergeſchichtlich an, ſo ſiehſt du auch ſofort ihre noch heute und bei uns thätigen Rückfall¬ gefahren. Die ſchwerſte iſt die doch wieder einreißende Ver¬ gewaltigung des einen Geſchlechts. Rückfall gegen den Typus Bonellia oder Wurzelkrebs. Dort waren die Männchen das Degenerierte. Es kann aber auch das Weib die Rolle über¬ nehmen. Bei der Spinne iſt das Weib noch phyſiſch ſtärker. Beim Stichling ſchon nicht mehr. Nun denke, wo die tieriſche Entwickelung in den Lichtkreis „Menſch“ trat. Mit einem ſchwächeren Weibe! Ahnſt du den großen Kampf, den die Menſchheit kämpfen mußte? Mit der Menſchheit ging alles aufs Licht. Alles Über¬ kommene wird unter tauſend Kämpfen verklärt. Die Ehe ver¬ 23*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/371>, abgerufen am 22.11.2024.