gerade die Kälte nicht, schlummern fröhlich dem Frühling zu, -- die Feinde aber, die sie bedrohen könnten, rafft der Frost durchweg dahin. Derselbe Frost, der auch die gealterte welke Mutterspinne rafft: als verhungertes, erfrorenes Herbstblättchen liegt sie eines Tages neben ihrer Brut, die sie nicht mehr braucht .....
Siehst du über den alten grünen Gartenzaun die Augen der Madonna leuchten? Mit ihrer unendlichen Wanderschaft durch die Jahrmillionen, vom Blut zum Geist? Das wilde Spinnenweib, das über einer grauenvollen Mordhöhle groß geworden ist, das noch schwankt, ob es den Mann, der ihm Liebe bietet, nicht auch kaltblütig abschlachten soll, wie es alle seine Vorgänger, die in die Mördergrube gefallen sind, ab¬ geschlachtet hat ..... und die Mutter, die über einer Wiege bis zum letzten Atemszuge wacht ..... aus diesen Gegensätzen hat die Natur geschmiedet, was du heute Liebe nennst.
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gerade die Kälte nicht, ſchlummern fröhlich dem Frühling zu, — die Feinde aber, die ſie bedrohen könnten, rafft der Froſt durchweg dahin. Derſelbe Froſt, der auch die gealterte welke Mutterſpinne rafft: als verhungertes, erfrorenes Herbſtblättchen liegt ſie eines Tages neben ihrer Brut, die ſie nicht mehr braucht .....
Siehſt du über den alten grünen Gartenzaun die Augen der Madonna leuchten? Mit ihrer unendlichen Wanderſchaft durch die Jahrmillionen, vom Blut zum Geiſt? Das wilde Spinnenweib, das über einer grauenvollen Mordhöhle groß geworden iſt, das noch ſchwankt, ob es den Mann, der ihm Liebe bietet, nicht auch kaltblütig abſchlachten ſoll, wie es alle ſeine Vorgänger, die in die Mördergrube gefallen ſind, ab¬ geſchlachtet hat ..... und die Mutter, die über einer Wiege bis zum letzten Atemszuge wacht ..... aus dieſen Gegenſätzen hat die Natur geſchmiedet, was du heute Liebe nennſt.
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gerade die Kälte nicht, ſchlummern fröhlich dem Frühling zu, —
die Feinde aber, die ſie bedrohen könnten, rafft der Froſt
durchweg dahin. Derſelbe Froſt, der auch die gealterte welke
Mutterſpinne rafft: als verhungertes, erfrorenes Herbſtblättchen
liegt ſie eines Tages neben ihrer Brut, die ſie nicht mehr
braucht .....
Siehſt du über den alten grünen Gartenzaun die Augen
der Madonna leuchten? Mit ihrer unendlichen Wanderſchaft
durch die Jahrmillionen, vom Blut zum Geiſt? Das wilde
Spinnenweib, das über einer grauenvollen Mordhöhle groß
geworden iſt, das noch ſchwankt, ob es den Mann, der ihm
Liebe bietet, nicht auch kaltblütig abſchlachten ſoll, wie es alle
ſeine Vorgänger, die in die Mördergrube gefallen ſind, ab¬
geſchlachtet hat ..... und die Mutter, die über einer Wiege
bis zum letzten Atemszuge wacht ..... aus dieſen Gegenſätzen
hat die Natur geſchmiedet, was du heute Liebe nennſt.
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/355>, abgerufen am 22.11.2024.
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