Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Festhaften, Ankleben, Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr so an der Scholle festnistet, sondern zeitlebens als freies Individuum mit jeweiliger schutzentsprechender Selbstbestimmung sich herum¬ bewegt, setzen wir den Tintenfisch hoch über die Auster. Und im höchsten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬ tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachsenen oder eingewurzelten Wesen mehr. Der Begattungsakt ist aber nun überall eine letzte Stelle, wo wenigstens noch für einen Moment eine solche Einwurzelei und Festhafterei auf alle Fälle stattfinden soll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchsten Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen in Menge hervorruft. Der Mensch hat wohl ein Recht, von diesem Intermezzo höheren tierischen Lebens zu sagen, was Helmholtz vom menschlichen Auge sagte: alle Gesamtleistung in Ehren, würde er doch einen menschlichen Mechanikus, der ihm einen Apparat mit so viel Mängeln und überflüssigen Erschwerungen gebracht hätte, als Stümper samt seinem Werk in Schanden heimgeschickt haben. Solche "Unpraktischkeiten" der Natur sind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen, wie die Welt der tierischen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬ weisheit, sondern das Ergebnis unendlich langsamer, schwieriger "Selbstmache" im Verlaufe ungezählter Generationen ist. Aber in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf alle Fälle. Im Tintenfisch sehen wir die Beweglichkeit des Individuums um einen riesigen Ruck gegen die Auster etwa erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen bei der Begattung.
Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬ schlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im Leibessack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der Tintenmann hat da seinen Hoden (nur einen), in dem die Samentierchen fabriziert werden, das Tintenweib seinen (eben¬
Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Feſthaften, Ankleben, Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr ſo an der Scholle feſtniſtet, ſondern zeitlebens als freies Individuum mit jeweiliger ſchutzentſprechender Selbſtbeſtimmung ſich herum¬ bewegt, ſetzen wir den Tintenfiſch hoch über die Auſter. Und im höchſten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬ tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachſenen oder eingewurzelten Weſen mehr. Der Begattungsakt iſt aber nun überall eine letzte Stelle, wo wenigſtens noch für einen Moment eine ſolche Einwurzelei und Feſthafterei auf alle Fälle ſtattfinden ſoll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchſten Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen in Menge hervorruft. Der Menſch hat wohl ein Recht, von dieſem Intermezzo höheren tieriſchen Lebens zu ſagen, was Helmholtz vom menſchlichen Auge ſagte: alle Geſamtleiſtung in Ehren, würde er doch einen menſchlichen Mechanikus, der ihm einen Apparat mit ſo viel Mängeln und überflüſſigen Erſchwerungen gebracht hätte, als Stümper ſamt ſeinem Werk in Schanden heimgeſchickt haben. Solche „Unpraktiſchkeiten“ der Natur ſind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen, wie die Welt der tieriſchen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬ weisheit, ſondern das Ergebnis unendlich langſamer, ſchwieriger „Selbſtmache“ im Verlaufe ungezählter Generationen iſt. Aber in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf alle Fälle. Im Tintenfiſch ſehen wir die Beweglichkeit des Individuums um einen rieſigen Ruck gegen die Auſter etwa erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen bei der Begattung.
Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬ ſchlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im Leibesſack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der Tintenmann hat da ſeinen Hoden (nur einen), in dem die Samentierchen fabriziert werden, das Tintenweib ſeinen (eben¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0313"n="297"/>
Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Feſthaften, Ankleben,<lb/>
Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr ſo an der<lb/>
Scholle feſtniſtet, ſondern zeitlebens als freies Individuum mit<lb/>
jeweiliger ſchutzentſprechender Selbſtbeſtimmung ſich herum¬<lb/>
bewegt, ſetzen wir den Tintenfiſch hoch über die Auſter. Und<lb/>
im höchſten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬<lb/>
tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachſenen<lb/>
oder eingewurzelten Weſen mehr. Der Begattungsakt iſt aber<lb/>
nun überall eine letzte Stelle, wo wenigſtens noch für einen<lb/>
Moment eine ſolche Einwurzelei und Feſthafterei auf alle Fälle<lb/>ſtattfinden ſoll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchſten<lb/>
Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen<lb/>
in Menge hervorruft. Der Menſch hat wohl ein Recht, von<lb/>
dieſem Intermezzo höheren tieriſchen Lebens zu ſagen, was<lb/>
Helmholtz vom menſchlichen Auge ſagte: alle Geſamtleiſtung<lb/>
in Ehren, würde er doch einen menſchlichen Mechanikus, der<lb/>
ihm einen Apparat mit ſo viel Mängeln und überflüſſigen<lb/>
Erſchwerungen gebracht hätte, als Stümper ſamt ſeinem Werk<lb/>
in Schanden heimgeſchickt haben. Solche „Unpraktiſchkeiten“<lb/>
der Natur ſind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen,<lb/>
wie die Welt der tieriſchen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬<lb/>
weisheit, ſondern das Ergebnis unendlich langſamer, ſchwieriger<lb/>„Selbſtmache“ im Verlaufe ungezählter Generationen iſt. Aber<lb/>
in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf<lb/>
alle Fälle. Im Tintenfiſch ſehen wir die Beweglichkeit des<lb/>
Individuums um einen rieſigen Ruck gegen die Auſter etwa<lb/>
erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit<lb/>
einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen<lb/>
bei der Begattung.</p><lb/><p>Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬<lb/>ſchlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im<lb/>
Leibesſack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der<lb/>
Tintenmann hat da ſeinen Hoden (nur einen), in dem die<lb/>
Samentierchen fabriziert werden, das Tintenweib ſeinen (eben¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[297/0313]
Tierentwickelung eine Tendenz, die vom Feſthaften, Ankleben,
Einwurzeln fortführt. Deshalb, weil er nicht mehr ſo an der
Scholle feſtniſtet, ſondern zeitlebens als freies Individuum mit
jeweiliger ſchutzentſprechender Selbſtbeſtimmung ſich herum¬
bewegt, ſetzen wir den Tintenfiſch hoch über die Auſter. Und
im höchſten Stamm des ganzen Tierreichs, bei den Wirbel¬
tieren, giebt es überhaupt keine gewohnheitsmäßig angewachſenen
oder eingewurzelten Weſen mehr. Der Begattungsakt iſt aber
nun überall eine letzte Stelle, wo wenigſtens noch für einen
Moment eine ſolche Einwurzelei und Feſthafterei auf alle Fälle
ſtattfinden ſoll. Erklärlich genug, daß das die denkbar höchſten
Unbequemlichkeiten, unmögliche Akte, Lagen und Stellungen
in Menge hervorruft. Der Menſch hat wohl ein Recht, von
dieſem Intermezzo höheren tieriſchen Lebens zu ſagen, was
Helmholtz vom menſchlichen Auge ſagte: alle Geſamtleiſtung
in Ehren, würde er doch einen menſchlichen Mechanikus, der
ihm einen Apparat mit ſo viel Mängeln und überflüſſigen
Erſchwerungen gebracht hätte, als Stümper ſamt ſeinem Werk
in Schanden heimgeſchickt haben. Solche „Unpraktiſchkeiten“
der Natur ſind im höheren Sinne ja lehrreich. Sie zeigen,
wie die Welt der tieriſchen Dinge nicht vorgeplante Schöpfer¬
weisheit, ſondern das Ergebnis unendlich langſamer, ſchwieriger
„Selbſtmache“ im Verlaufe ungezählter Generationen iſt. Aber
in der Praxis bleibt das Teufelsendchen des Unbequemen auf
alle Fälle. Im Tintenfiſch ſehen wir die Beweglichkeit des
Individuums um einen rieſigen Ruck gegen die Auſter etwa
erhöht. Aber doppelt und dreifach deshalb die Schwierigkeit
einer regelrechten Einwurzelung des Männchens im Weibchen
bei der Begattung.
Tintenmann und Tintenweib haben ihre eigentlichen Ge¬
ſchlechtsorgane, wo die Sache gebraut wird, tief drinnen im
Leibesſack, eng verknüpft mit den übrigen Eingeweiden. Der
Tintenmann hat da ſeinen Hoden (nur einen), in dem die
Samentierchen fabriziert werden, das Tintenweib ſeinen (eben¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/313>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.