der wie tot liegen bleibt; und halte dir daneben das erwachsene Huhn, wie es dich anäugt mit einem Blick, der von einem Gehirn kommt und zu einem Gehirn geht, wie es läuft, scharrt, gackert und fliegt; so etwa stehen im Kontrast zu einander das eine niedrige und noch dazu degenerierte Weichtier: die Auster, und das andere, hoch entwickelte: der Tintenfisch. Der Tintenfisch ist die Krone seines Stammes. Ein starkes Gehirn zentralisiert im Kopf seine Geistes¬ kräfte, und obwohl er sonst wenig Gerippe im weichen Körper trägt, schützt doch dieses Gehirn wie beim höheren Wirbeltier, beim Frosch, Vogel oder Menschen, eine besondere knorpelharte Schädelkapsel, die gewiß sich nicht entwickelt hätte, wenn es hier nicht etwas Ernstes und Wertvolles zu schützen gäbe. Intellekt hängt aber, das kann man beinahe wie ein Gesetz aussprechen, immer mit starker Beweglichkeit zusammen. Und unendlich ist denn auch hierin die Auster übertroffen: der Tintenfisch ist ein Schwimmer, Läufer, Kletterer, ja selbst Baukünstler, der sich mit Steinen verbarrikadiert, wie er in seinem Element, dem Seewasser, seines gleichen sucht. Bloß in der äußeren Gestalt klebt ihm noch etwas Stammeserbe an, es steckt etwas Barockes, Verrücktes in seinem Bau: die Arme sitzen auf dem Kopf oberhalb der Augen und rings um den gefräßigen Mund, und sie packen ihre Beute, indem sie sich mit einer Reihe von Schröpfköpfen unabschüttelbar an ihr festsaugen. Die Ungestalt wird um so auffälliger bei der Größe, die schließlich ins Kolossale geht.
Denn der Tintenfisch ist, in seinen riesigsten Arten, der "Krake" der Schiffersagen, von dem Exemplare bis zu zwanzig Metern Gesamtlänge vorkommen. Eine Spinne von dieser Grüße würde zweifellos das entsetzlichste aller Landtiere und das Schreckensmärchen aller Völker sein.
Die Tintenfische sind uralt. Sie erscheinen in ungeheuren Massen fast schon an der Stelle, wo für unser Wissen der Vorhang über dem Leben in der Erdgeschichte aufgeht. Von
der wie tot liegen bleibt; und halte dir daneben das erwachſene Huhn, wie es dich anäugt mit einem Blick, der von einem Gehirn kommt und zu einem Gehirn geht, wie es läuft, ſcharrt, gackert und fliegt; ſo etwa ſtehen im Kontraſt zu einander das eine niedrige und noch dazu degenerierte Weichtier: die Auſter, und das andere, hoch entwickelte: der Tintenfiſch. Der Tintenfiſch iſt die Krone ſeines Stammes. Ein ſtarkes Gehirn zentraliſiert im Kopf ſeine Geiſtes¬ kräfte, und obwohl er ſonſt wenig Gerippe im weichen Körper trägt, ſchützt doch dieſes Gehirn wie beim höheren Wirbeltier, beim Froſch, Vogel oder Menſchen, eine beſondere knorpelharte Schädelkapſel, die gewiß ſich nicht entwickelt hätte, wenn es hier nicht etwas Ernſtes und Wertvolles zu ſchützen gäbe. Intellekt hängt aber, das kann man beinahe wie ein Geſetz ausſprechen, immer mit ſtarker Beweglichkeit zuſammen. Und unendlich iſt denn auch hierin die Auſter übertroffen: der Tintenfiſch iſt ein Schwimmer, Läufer, Kletterer, ja ſelbſt Baukünſtler, der ſich mit Steinen verbarrikadiert, wie er in ſeinem Element, dem Seewaſſer, ſeines gleichen ſucht. Bloß in der äußeren Geſtalt klebt ihm noch etwas Stammeserbe an, es ſteckt etwas Barockes, Verrücktes in ſeinem Bau: die Arme ſitzen auf dem Kopf oberhalb der Augen und rings um den gefräßigen Mund, und ſie packen ihre Beute, indem ſie ſich mit einer Reihe von Schröpfköpfen unabſchüttelbar an ihr feſtſaugen. Die Ungeſtalt wird um ſo auffälliger bei der Größe, die ſchließlich ins Koloſſale geht.
Denn der Tintenfiſch iſt, in ſeinen rieſigſten Arten, der „Krake“ der Schifferſagen, von dem Exemplare bis zu zwanzig Metern Geſamtlänge vorkommen. Eine Spinne von dieſer Grüße würde zweifellos das entſetzlichſte aller Landtiere und das Schreckensmärchen aller Völker ſein.
Die Tintenfiſche ſind uralt. Sie erſcheinen in ungeheuren Maſſen faſt ſchon an der Stelle, wo für unſer Wiſſen der Vorhang über dem Leben in der Erdgeſchichte aufgeht. Von
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der wie tot liegen bleibt; und halte dir daneben das erwachſene
Huhn, wie es dich anäugt mit einem Blick, der von einem
Gehirn kommt und zu einem Gehirn geht, wie es läuft, ſcharrt,
gackert und fliegt; ſo etwa ſtehen im Kontraſt zu einander das
eine niedrige und noch dazu degenerierte Weichtier: die Auſter,
und das andere, hoch entwickelte: der Tintenfiſch.
Der Tintenfiſch iſt die Krone ſeines Stammes.
Ein ſtarkes Gehirn zentraliſiert im Kopf ſeine Geiſtes¬
kräfte, und obwohl er ſonſt wenig Gerippe im weichen Körper
trägt, ſchützt doch dieſes Gehirn wie beim höheren Wirbeltier,
beim Froſch, Vogel oder Menſchen, eine beſondere knorpelharte
Schädelkapſel, die gewiß ſich nicht entwickelt hätte, wenn es
hier nicht etwas Ernſtes und Wertvolles zu ſchützen gäbe.
Intellekt hängt aber, das kann man beinahe wie ein Geſetz
ausſprechen, immer mit ſtarker Beweglichkeit zuſammen. Und
unendlich iſt denn auch hierin die Auſter übertroffen: der
Tintenfiſch iſt ein Schwimmer, Läufer, Kletterer, ja ſelbſt
Baukünſtler, der ſich mit Steinen verbarrikadiert, wie er in
ſeinem Element, dem Seewaſſer, ſeines gleichen ſucht. Bloß
in der äußeren Geſtalt klebt ihm noch etwas Stammeserbe an,
es ſteckt etwas Barockes, Verrücktes in ſeinem Bau: die Arme
ſitzen auf dem Kopf oberhalb der Augen und rings um den
gefräßigen Mund, und ſie packen ihre Beute, indem ſie ſich
mit einer Reihe von Schröpfköpfen unabſchüttelbar an ihr
feſtſaugen. Die Ungeſtalt wird um ſo auffälliger bei der
Größe, die ſchließlich ins Koloſſale geht.
Denn der Tintenfiſch iſt, in ſeinen rieſigſten Arten, der
„Krake“ der Schifferſagen, von dem Exemplare bis zu zwanzig
Metern Geſamtlänge vorkommen. Eine Spinne von dieſer
Grüße würde zweifellos das entſetzlichſte aller Landtiere und
das Schreckensmärchen aller Völker ſein.
Die Tintenfiſche ſind uralt. Sie erſcheinen in ungeheuren
Maſſen faſt ſchon an der Stelle, wo für unſer Wiſſen der
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/310>, abgerufen am 25.11.2024.
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