Gast aus den "Stillen im Meere" zu sein, führt er ein echtes Raubtierleben da unten und überfällt und verspeist kleine Krebse, Austern und Fische der purpurnen Tiefe nach Herzenslust. Und vollends bei einigen Arten findest du etwas, das vielleicht stärker als irgend etwas anderes diesen Eindruck des seelisch und körperlich gefestigten Individuums bewährt.
Der erwachsene weibliche Seestern, selbst einst hervor¬ gegangen aus der rücksichtslosen Zerstörung seiner Ammenform, zeigt in unverkennbarer Weise gewisse Muttergefühle gegen¬ über seiner eigenen Nachkommenschaft. Wie eine brütende Gluck¬ henne siehst du im Versteck unter Steinen das Seesternweib mit gekrümmten Armen über seinen befruchteten Eiern und aus¬ kriechenden Jungen sitzen, -- ein seltsames Bild und zugleich eine rührende erste Stufe der ungeheuren Leiter, die hoch in der Vergeistigung des Menschlichen mit dem Kinde an der Brust der Madonna gipfelt .....
Nun denn: dieses "gute Individuum" bringt es gelegent¬ lich trotz all seiner komplizierten Individualität fertig, sich wie eines jener organlosen Urtiere noch einmal in zwei Individuen auseinanderzuspalten. Unter den wildesten Zuckungen geht es auf einmal durch den ganzen Stern wie ein innerlicher Riß. Ein Teil der Sternarme will von dem anderen los. Aber er kann es nur so, daß auch das Mittelstück einfach zerhackt wird. Alles platzt: Nervenstränge und Gefäße reißen, harte Gerüst¬ teile brechen, ja der Magen wird aufgespalten und in zwei offene Hälften zerteilt. Buchstäblich siehst du dann wie im Liede "zur Rechten wie zur Linken einen halben Türken herunter sinken." Aber jede Hälfte lebt. War der Stern fünfstrahlig, so pflegt die eine Hälfte drei, die andere zwei Arme übrig zu behalten. Bei acht Armen wird auf vier zu vier, bei sechsen auf drei zu drei halbiert. Wenig später: und die grauenhafte Rißwunde verklebt zunächst und heilt dann in der Weise ganz aus, daß die fehlenden Teile sich bei jeder der beiden Hälften einfach neu bilden. Auch die auf jeder Seite fehlenden Arme
Gaſt aus den „Stillen im Meere“ zu ſein, führt er ein echtes Raubtierleben da unten und überfällt und verſpeiſt kleine Krebſe, Auſtern und Fiſche der purpurnen Tiefe nach Herzensluſt. Und vollends bei einigen Arten findeſt du etwas, das vielleicht ſtärker als irgend etwas anderes dieſen Eindruck des ſeeliſch und körperlich gefeſtigten Individuums bewährt.
Der erwachſene weibliche Seeſtern, ſelbſt einſt hervor¬ gegangen aus der rückſichtsloſen Zerſtörung ſeiner Ammenform, zeigt in unverkennbarer Weiſe gewiſſe Muttergefühle gegen¬ über ſeiner eigenen Nachkommenſchaft. Wie eine brütende Gluck¬ henne ſiehſt du im Verſteck unter Steinen das Seeſternweib mit gekrümmten Armen über ſeinen befruchteten Eiern und aus¬ kriechenden Jungen ſitzen, — ein ſeltſames Bild und zugleich eine rührende erſte Stufe der ungeheuren Leiter, die hoch in der Vergeiſtigung des Menſchlichen mit dem Kinde an der Bruſt der Madonna gipfelt .....
Nun denn: dieſes „gute Individuum“ bringt es gelegent¬ lich trotz all ſeiner komplizierten Individualität fertig, ſich wie eines jener organloſen Urtiere noch einmal in zwei Individuen auseinanderzuſpalten. Unter den wildeſten Zuckungen geht es auf einmal durch den ganzen Stern wie ein innerlicher Riß. Ein Teil der Sternarme will von dem anderen los. Aber er kann es nur ſo, daß auch das Mittelſtück einfach zerhackt wird. Alles platzt: Nervenſtränge und Gefäße reißen, harte Gerüſt¬ teile brechen, ja der Magen wird aufgeſpalten und in zwei offene Hälften zerteilt. Buchſtäblich ſiehſt du dann wie im Liede „zur Rechten wie zur Linken einen halben Türken herunter ſinken.“ Aber jede Hälfte lebt. War der Stern fünfſtrahlig, ſo pflegt die eine Hälfte drei, die andere zwei Arme übrig zu behalten. Bei acht Armen wird auf vier zu vier, bei ſechſen auf drei zu drei halbiert. Wenig ſpäter: und die grauenhafte Rißwunde verklebt zunächſt und heilt dann in der Weiſe ganz aus, daß die fehlenden Teile ſich bei jeder der beiden Hälften einfach neu bilden. Auch die auf jeder Seite fehlenden Arme
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Gaſt aus den „Stillen im Meere“ zu ſein, führt er ein echtes
Raubtierleben da unten und überfällt und verſpeiſt kleine Krebſe,
Auſtern und Fiſche der purpurnen Tiefe nach Herzensluſt. Und
vollends bei einigen Arten findeſt du etwas, das vielleicht
ſtärker als irgend etwas anderes dieſen Eindruck des ſeeliſch
und körperlich gefeſtigten Individuums bewährt.
Der erwachſene weibliche Seeſtern, ſelbſt einſt hervor¬
gegangen aus der rückſichtsloſen Zerſtörung ſeiner Ammenform,
zeigt in unverkennbarer Weiſe gewiſſe Muttergefühle gegen¬
über ſeiner eigenen Nachkommenſchaft. Wie eine brütende Gluck¬
henne ſiehſt du im Verſteck unter Steinen das Seeſternweib
mit gekrümmten Armen über ſeinen befruchteten Eiern und aus¬
kriechenden Jungen ſitzen, — ein ſeltſames Bild und zugleich
eine rührende erſte Stufe der ungeheuren Leiter, die hoch in
der Vergeiſtigung des Menſchlichen mit dem Kinde an der
Bruſt der Madonna gipfelt .....
Nun denn: dieſes „gute Individuum“ bringt es gelegent¬
lich trotz all ſeiner komplizierten Individualität fertig, ſich wie
eines jener organloſen Urtiere noch einmal in zwei Individuen
auseinanderzuſpalten. Unter den wildeſten Zuckungen geht es
auf einmal durch den ganzen Stern wie ein innerlicher Riß.
Ein Teil der Sternarme will von dem anderen los. Aber er
kann es nur ſo, daß auch das Mittelſtück einfach zerhackt wird.
Alles platzt: Nervenſtränge und Gefäße reißen, harte Gerüſt¬
teile brechen, ja der Magen wird aufgeſpalten und in zwei
offene Hälften zerteilt. Buchſtäblich ſiehſt du dann wie im Liede
„zur Rechten wie zur Linken einen halben Türken herunter
ſinken.“ Aber jede Hälfte lebt. War der Stern fünfſtrahlig,
ſo pflegt die eine Hälfte drei, die andere zwei Arme übrig zu
behalten. Bei acht Armen wird auf vier zu vier, bei ſechſen
auf drei zu drei halbiert. Wenig ſpäter: und die grauenhafte
Rißwunde verklebt zunächſt und heilt dann in der Weiſe ganz
aus, daß die fehlenden Teile ſich bei jeder der beiden Hälften
einfach neu bilden. Auch die auf jeder Seite fehlenden Arme
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/293>, abgerufen am 24.11.2024.
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