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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Einstweilen, damit du gleich noch eine hübsche Probe
dazu erhältst, hier noch eine zweite Stachelhäutergeschichte.

Eine Liebesgeschichte eigentlich nur sehr bedingt, denn
wenn sich's auch um Vermehrung handelt, so sieht die Sache
doch schon mehr aus nach Ehescheidung. Ehescheidung mit dem
besonderen Raffinement, das wohl noch kein moderner Sitten¬
roman sich zu eigen gemacht hat: daß nämlich ein Wesen, er
oder sie, sich von sich selber scheiden läßt.

Mir ist bisweilen, als sei solche Scheidung im eigenen Ich
ein wünschenswertes Ziel für manche allzu konsequenten Indi¬
vidualisten unter uns Menschen.

Sie sperren sich ab gegen die Mitmenschen, und die Ehe
ist ihnen ein Graus, weil sie sie vergewaltigen könnte in der
individuellen Freiheit. Es liegt ein großer Gedanke in solchem
Streben, wenn es rein auftritt. Aber wer ist stark genug dazu?
Die Einsamkeit erscheint als neue Feuertaufe. Aber nun sitzt
der Störenfried schließlich im innersten Ich selber, und du siehst
den konsequenten Individualisten mit einer dunklen Sehnsucht
auf der Wanderschaft, -- der Sehnsucht: wenn mich doch einer
jetzt nur noch in mir selbst von mir selber frei machte, mich
von mir selber schiede!

Umsonst! -- Du magst im seelischen Sinne Stachelhäuter
sein, so viel du willst: als Mensch glückt dir zwar noch, wie
Busch sagt, der "eigene Sterbefall" als letzte Wahl, aber nicht
mehr die lebendige Selbstzerteilung. Da müßtest du schon wirk¬
licher Stachelhäuter im zoologischen Sinne werden.

Du erinnerst dich der einzelligen Urtiere, die sich einfach
dadurch fortpflanzten, daß sie in zwei oder mehr Stücke zerfielen.
Für das Problem des Individuums, an dem wir eben so eifrig
herumgenagt haben, ist das ja an sich schon eine hinreichend
verwickelte Sache. Aber schließlich mag man sagen, es sei bei
diesen niedrigsten Wesen eben der ganze Begriff Individuum
noch so schwankend und die Natur der gleichzeitigen seelischen

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Einſtweilen, damit du gleich noch eine hübſche Probe
dazu erhältſt, hier noch eine zweite Stachelhäutergeſchichte.

Eine Liebesgeſchichte eigentlich nur ſehr bedingt, denn
wenn ſich's auch um Vermehrung handelt, ſo ſieht die Sache
doch ſchon mehr aus nach Eheſcheidung. Eheſcheidung mit dem
beſonderen Raffinement, das wohl noch kein moderner Sitten¬
roman ſich zu eigen gemacht hat: daß nämlich ein Weſen, er
oder ſie, ſich von ſich ſelber ſcheiden läßt.

Mir iſt bisweilen, als ſei ſolche Scheidung im eigenen Ich
ein wünſchenswertes Ziel für manche allzu konſequenten Indi¬
vidualiſten unter uns Menſchen.

Sie ſperren ſich ab gegen die Mitmenſchen, und die Ehe
iſt ihnen ein Graus, weil ſie ſie vergewaltigen könnte in der
individuellen Freiheit. Es liegt ein großer Gedanke in ſolchem
Streben, wenn es rein auftritt. Aber wer iſt ſtark genug dazu?
Die Einſamkeit erſcheint als neue Feuertaufe. Aber nun ſitzt
der Störenfried ſchließlich im innerſten Ich ſelber, und du ſiehſt
den konſequenten Individualiſten mit einer dunklen Sehnſucht
auf der Wanderſchaft, — der Sehnſucht: wenn mich doch einer
jetzt nur noch in mir ſelbſt von mir ſelber frei machte, mich
von mir ſelber ſchiede!

Umſonſt! — Du magſt im ſeeliſchen Sinne Stachelhäuter
ſein, ſo viel du willſt: als Menſch glückt dir zwar noch, wie
Buſch ſagt, der „eigene Sterbefall“ als letzte Wahl, aber nicht
mehr die lebendige Selbſtzerteilung. Da müßteſt du ſchon wirk¬
licher Stachelhäuter im zoologiſchen Sinne werden.

Du erinnerſt dich der einzelligen Urtiere, die ſich einfach
dadurch fortpflanzten, daß ſie in zwei oder mehr Stücke zerfielen.
Für das Problem des Individuums, an dem wir eben ſo eifrig
herumgenagt haben, iſt das ja an ſich ſchon eine hinreichend
verwickelte Sache. Aber ſchließlich mag man ſagen, es ſei bei
dieſen niedrigſten Weſen eben der ganze Begriff Individuum
noch ſo ſchwankend und die Natur der gleichzeitigen ſeeliſchen

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[275/0291] Einſtweilen, damit du gleich noch eine hübſche Probe dazu erhältſt, hier noch eine zweite Stachelhäutergeſchichte. Eine Liebesgeſchichte eigentlich nur ſehr bedingt, denn wenn ſich's auch um Vermehrung handelt, ſo ſieht die Sache doch ſchon mehr aus nach Eheſcheidung. Eheſcheidung mit dem beſonderen Raffinement, das wohl noch kein moderner Sitten¬ roman ſich zu eigen gemacht hat: daß nämlich ein Weſen, er oder ſie, ſich von ſich ſelber ſcheiden läßt. Mir iſt bisweilen, als ſei ſolche Scheidung im eigenen Ich ein wünſchenswertes Ziel für manche allzu konſequenten Indi¬ vidualiſten unter uns Menſchen. Sie ſperren ſich ab gegen die Mitmenſchen, und die Ehe iſt ihnen ein Graus, weil ſie ſie vergewaltigen könnte in der individuellen Freiheit. Es liegt ein großer Gedanke in ſolchem Streben, wenn es rein auftritt. Aber wer iſt ſtark genug dazu? Die Einſamkeit erſcheint als neue Feuertaufe. Aber nun ſitzt der Störenfried ſchließlich im innerſten Ich ſelber, und du ſiehſt den konſequenten Individualiſten mit einer dunklen Sehnſucht auf der Wanderſchaft, — der Sehnſucht: wenn mich doch einer jetzt nur noch in mir ſelbſt von mir ſelber frei machte, mich von mir ſelber ſchiede! Umſonſt! — Du magſt im ſeeliſchen Sinne Stachelhäuter ſein, ſo viel du willſt: als Menſch glückt dir zwar noch, wie Buſch ſagt, der „eigene Sterbefall“ als letzte Wahl, aber nicht mehr die lebendige Selbſtzerteilung. Da müßteſt du ſchon wirk¬ licher Stachelhäuter im zoologiſchen Sinne werden. Du erinnerſt dich der einzelligen Urtiere, die ſich einfach dadurch fortpflanzten, daß ſie in zwei oder mehr Stücke zerfielen. Für das Problem des Individuums, an dem wir eben ſo eifrig herumgenagt haben, iſt das ja an ſich ſchon eine hinreichend verwickelte Sache. Aber ſchließlich mag man ſagen, es ſei bei dieſen niedrigſten Weſen eben der ganze Begriff Individuum noch ſo ſchwankend und die Natur der gleichzeitigen ſeeliſchen 18*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/291>, abgerufen am 24.11.2024.