Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬
flügelte Körper des neuen Wesens besitzt gar keine brauchbaren
Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬
schlingens mit ihrem verheerenden Kampfe sind auf einmal zu nichts
verweht. Aber neue Organe sind dafür da und regen sich ver¬
langend an dem durchsichtigen Elfenleibe: die Organe der Liebe.

Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen
mag, hat einen neuen Zweck.

Über das Individuum greift er hinaus.

Diese im Mondesduft aufschillernde Wolke federleichter, be¬
flügelter Luftwesen ist kein Heer von Einsiedlern mehr, die in
der Tiefe unten nur ein Zufall an denselben Ort gebannt zu
haben schien, die aber jeder für sich hartnäckig ihren Weg gingen
oder ihre selbstgewählte Zelle behaupteten und die sich gegen¬
seitig höchstens die Nahrung fortschnappten .... wie durch die
Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in
wallenden Schauern zuckt, so wallt durch diese ganze Wolke
schwebender Insekten ein einziges unsägliches Verlangen nach
Vereinigung, Verschmelzung des eigenen Individuums mit
einem zweiten in überströmendem, alle Einzelheit und Endlich¬
keit in die Gemeinschaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬
schmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und
in der Inbrunst dieses Wollens werden die Einsiedler zu einer
seligen Wolke selbstloser Geselligkeit .... immer neue Brüder
und Schwestern tauchten auf aus dem schwarzen Schlund, hinauf
in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung --
und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren
Menge greift sich Paar um Paar und vollzieht unter allen
Seligkeitsschauern, die dieser winzige, blumenzarte Organismus
für einen Moment vollkommenster Erlösung und Harmonie bis
zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes:
die Begattung.

Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden
Felder tönt von neuem die Dorfuhr, es ist zehn Uhr. Der

Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬
flügelte Körper des neuen Weſens beſitzt gar keine brauchbaren
Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬
ſchlingens mit ihrem verheerenden Kampfe ſind auf einmal zu nichts
verweht. Aber neue Organe ſind dafür da und regen ſich ver¬
langend an dem durchſichtigen Elfenleibe: die Organe der Liebe.

Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen
mag, hat einen neuen Zweck.

Über das Individuum greift er hinaus.

Dieſe im Mondesduft aufſchillernde Wolke federleichter, be¬
flügelter Luftweſen iſt kein Heer von Einſiedlern mehr, die in
der Tiefe unten nur ein Zufall an denſelben Ort gebannt zu
haben ſchien, die aber jeder für ſich hartnäckig ihren Weg gingen
oder ihre ſelbſtgewählte Zelle behaupteten und die ſich gegen¬
ſeitig höchſtens die Nahrung fortſchnappten .... wie durch die
Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in
wallenden Schauern zuckt, ſo wallt durch dieſe ganze Wolke
ſchwebender Inſekten ein einziges unſägliches Verlangen nach
Vereinigung, Verſchmelzung des eigenen Individuums mit
einem zweiten in überſtrömendem, alle Einzelheit und Endlich¬
keit in die Gemeinſchaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬
ſchmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und
in der Inbrunſt dieſes Wollens werden die Einſiedler zu einer
ſeligen Wolke ſelbſtloſer Geſelligkeit .... immer neue Brüder
und Schweſtern tauchten auf aus dem ſchwarzen Schlund, hinauf
in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung —
und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren
Menge greift ſich Paar um Paar und vollzieht unter allen
Seligkeitsſchauern, die dieſer winzige, blumenzarte Organismus
für einen Moment vollkommenſter Erlöſung und Harmonie bis
zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes:
die Begattung.

Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden
Felder tönt von neuem die Dorfuhr, es iſt zehn Uhr. Der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0028" n="12"/>
Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬<lb/>
flügelte Körper des neuen We&#x017F;ens be&#x017F;itzt gar keine brauchbaren<lb/>
Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬<lb/>
&#x017F;chlingens mit ihrem verheerenden Kampfe &#x017F;ind auf einmal zu nichts<lb/>
verweht. Aber neue Organe &#x017F;ind dafür da und regen &#x017F;ich ver¬<lb/>
langend an dem durch&#x017F;ichtigen Elfenleibe: <hi rendition="#g">die Organe der Liebe</hi>.</p><lb/>
        <p>Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen<lb/>
mag, hat einen <hi rendition="#g">neuen Zweck</hi>.</p><lb/>
        <p>Über das Individuum greift er hinaus.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e im Mondesduft auf&#x017F;chillernde Wolke federleichter, be¬<lb/>
flügelter Luftwe&#x017F;en i&#x017F;t kein Heer von Ein&#x017F;iedlern mehr, die in<lb/>
der Tiefe unten nur ein Zufall an den&#x017F;elben Ort gebannt zu<lb/>
haben &#x017F;chien, die aber jeder für &#x017F;ich hartnäckig ihren Weg gingen<lb/>
oder ihre &#x017F;elb&#x017F;tgewählte Zelle behaupteten und die &#x017F;ich gegen¬<lb/>
&#x017F;eitig höch&#x017F;tens die Nahrung fort&#x017F;chnappten .... wie durch die<lb/>
Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in<lb/>
wallenden Schauern zuckt, &#x017F;o wallt durch die&#x017F;e ganze Wolke<lb/>
&#x017F;chwebender In&#x017F;ekten ein einziges un&#x017F;ägliches Verlangen nach<lb/>
Vereinigung, Ver&#x017F;chmelzung des eigenen Individuums mit<lb/>
einem zweiten in über&#x017F;trömendem, alle Einzelheit und Endlich¬<lb/>
keit in die Gemein&#x017F;chaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬<lb/>
&#x017F;chmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und<lb/>
in der Inbrun&#x017F;t die&#x017F;es Wollens werden die Ein&#x017F;iedler zu einer<lb/>
&#x017F;eligen Wolke &#x017F;elb&#x017F;tlo&#x017F;er Ge&#x017F;elligkeit .... immer neue Brüder<lb/>
und Schwe&#x017F;tern tauchten auf aus dem &#x017F;chwarzen Schlund, hinauf<lb/>
in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung &#x2014;<lb/>
und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren<lb/>
Menge greift &#x017F;ich Paar um Paar und vollzieht unter allen<lb/>
Seligkeits&#x017F;chauern, die die&#x017F;er winzige, blumenzarte Organismus<lb/>
für einen Moment vollkommen&#x017F;ter Erlö&#x017F;ung und Harmonie bis<lb/>
zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes:<lb/><hi rendition="#g">die Begattung</hi>.</p><lb/>
        <p>Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden<lb/>
Felder tönt von neuem die Dorfuhr, es i&#x017F;t zehn Uhr. Der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[12/0028] Zweck des alten Lebens, die Nahrungsaufnahme; der zarte ge¬ flügelte Körper des neuen Weſens beſitzt gar keine brauchbaren Kauwerkzeuge mehr. Die Jahre des Raubens, Würgens, Ver¬ ſchlingens mit ihrem verheerenden Kampfe ſind auf einmal zu nichts verweht. Aber neue Organe ſind dafür da und regen ſich ver¬ langend an dem durchſichtigen Elfenleibe: die Organe der Liebe. Und das Leben, wie lang oder kurz es nun noch währen mag, hat einen neuen Zweck. Über das Individuum greift er hinaus. Dieſe im Mondesduft aufſchillernde Wolke federleichter, be¬ flügelter Luftweſen iſt kein Heer von Einſiedlern mehr, die in der Tiefe unten nur ein Zufall an denſelben Ort gebannt zu haben ſchien, die aber jeder für ſich hartnäckig ihren Weg gingen oder ihre ſelbſtgewählte Zelle behaupteten und die ſich gegen¬ ſeitig höchſtens die Nahrung fortſchnappten .... wie durch die Gewitterwolke dort neben dem roten Mond die Elektrizität in wallenden Schauern zuckt, ſo wallt durch dieſe ganze Wolke ſchwebender Inſekten ein einziges unſägliches Verlangen nach Vereinigung, Verſchmelzung des eigenen Individuums mit einem zweiten in überſtrömendem, alle Einzelheit und Endlich¬ keit in die Gemeinſchaft und Unendlichkeit der Gattung hinüber¬ ſchmelzendem Liebesglück .... alle wollen zwei werden und in der Inbrunſt dieſes Wollens werden die Einſiedler zu einer ſeligen Wolke ſelbſtloſer Geſelligkeit .... immer neue Brüder und Schweſtern tauchten auf aus dem ſchwarzen Schlund, hinauf in die Herrlichkeit der Gewitterluft und der Mondverklärung — und in den Lüften, im betäubenden Wirbel der unzählbaren Menge greift ſich Paar um Paar und vollzieht unter allen Seligkeitsſchauern, die dieſer winzige, blumenzarte Organismus für einen Moment vollkommenſter Erlöſung und Harmonie bis zur Neige ertragen kann, den großen Akt des neuen Zweckes: die Begattung. Über die heißen, nach dem Tau des Gewitters lechzenden Felder tönt von neuem die Dorfuhr, es iſt zehn Uhr. Der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/28
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/28>, abgerufen am 24.11.2024.