Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Kenner, Häckel. So durchqueren sie, schwimmende Gärten von
unsagbarer Schönheit, die tiefblaue Meerenge von Messina, wo
die Natur sonst schon all ihre Wunder verschwenderisch gehäuft.
So begegnen sie dem Seefahrer im freien Tropenozean als
sogenannte Seeblase oder Physalia: die kindskopfgroße Schwimm¬
blase auf dem Wasserspiegel wie getriebenes Silber, das in
Himmelblau, Violett und Purpur spielt und mit einem Kamm
von leuchtendem Karminrot gekrönt ist, die herabhängenden Freß-,
Geschlechts- und Verteidigungsquallen zart ultramarinblau.

Und dieser ganze schillernde Farbentempel liebt natürlich
auch. Diese Liebe ist aber noch besonders lehrreich, weil sie
dir zugleich klar zeigt, wie dieses Staatsungetüm "individuell"
(falls dieses Wort hier gestattet ist) zustande kommt.

Zwischen den Freßtieren, Bewegungstieren, Verteidigungs¬
tieren des Stammes sitzen, wie erwähnt, auch rein männliche
und weibliche Geschlechtstiere -- bald beide am gleichen Stock,
bald hier nur männliche, dort nur weibliche. Sie haben sich
im Außeren noch relativ am meisten ihre allgemeine Quallen¬
gestalt bewahrt, -- mit dem glockenförmigen Mantel und einem
Zapfen unter der Glocke, der wie ein Mundende ausschaut.
Aber wenn du schärfer zuschaust, so siehst du, daß der ver¬
meintliche Mund zugewachsen ist, -- auch hier kommt die Er¬
nährung als direkter Nährsaft von den Freßgenossen in der
Kolonie herübergeströmt. Dafür spaltet die Wand des Zapfens
hier weibliche Eier, dort männliche Samenzellen in reichster
Fülle ab. Und die separat hier noch erhaltene Schwimmglocke
hat nur den einen guten Zweck, daß sie unter Umständen solcher
Geschlechtsqualle ermöglicht, bei voller Reife den Verband selbst¬
ständig zu verlassen und ein Stück weit auf eigene Faust zwecks
Absatz ihrer Geschlechtsfracht ins offene Meer hinauszusegeln.

Denn die Grundsache ist auch hier natürlich wieder die
absolut gleiche und ewig gleich notwendige: Samenzelle und
Eizelle zweier verschiedener "Übertiere" müssen sich finden und
vermischen, auf daß der Kreislauf von vorne anhebe. Aus

Kenner, Häckel. So durchqueren ſie, ſchwimmende Gärten von
unſagbarer Schönheit, die tiefblaue Meerenge von Meſſina, wo
die Natur ſonſt ſchon all ihre Wunder verſchwenderiſch gehäuft.
So begegnen ſie dem Seefahrer im freien Tropenozean als
ſogenannte Seeblaſe oder Phyſalia: die kindskopfgroße Schwimm¬
blaſe auf dem Waſſerſpiegel wie getriebenes Silber, das in
Himmelblau, Violett und Purpur ſpielt und mit einem Kamm
von leuchtendem Karminrot gekrönt iſt, die herabhängenden Freß-,
Geſchlechts- und Verteidigungsquallen zart ultramarinblau.

Und dieſer ganze ſchillernde Farbentempel liebt natürlich
auch. Dieſe Liebe iſt aber noch beſonders lehrreich, weil ſie
dir zugleich klar zeigt, wie dieſes Staatsungetüm „individuell“
(falls dieſes Wort hier geſtattet iſt) zuſtande kommt.

Zwiſchen den Freßtieren, Bewegungstieren, Verteidigungs¬
tieren des Stammes ſitzen, wie erwähnt, auch rein männliche
und weibliche Geſchlechtstiere — bald beide am gleichen Stock,
bald hier nur männliche, dort nur weibliche. Sie haben ſich
im Außeren noch relativ am meiſten ihre allgemeine Quallen¬
geſtalt bewahrt, — mit dem glockenförmigen Mantel und einem
Zapfen unter der Glocke, der wie ein Mundende ausſchaut.
Aber wenn du ſchärfer zuſchauſt, ſo ſiehſt du, daß der ver¬
meintliche Mund zugewachſen iſt, — auch hier kommt die Er¬
nährung als direkter Nährſaft von den Freßgenoſſen in der
Kolonie herübergeſtrömt. Dafür ſpaltet die Wand des Zapfens
hier weibliche Eier, dort männliche Samenzellen in reichſter
Fülle ab. Und die ſeparat hier noch erhaltene Schwimmglocke
hat nur den einen guten Zweck, daß ſie unter Umſtänden ſolcher
Geſchlechtsqualle ermöglicht, bei voller Reife den Verband ſelbſt¬
ſtändig zu verlaſſen und ein Stück weit auf eigene Fauſt zwecks
Abſatz ihrer Geſchlechtsfracht ins offene Meer hinauszuſegeln.

Denn die Grundſache iſt auch hier natürlich wieder die
abſolut gleiche und ewig gleich notwendige: Samenzelle und
Eizelle zweier verſchiedener „Übertiere“ müſſen ſich finden und
vermiſchen, auf daß der Kreislauf von vorne anhebe. Aus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0240" n="224"/>
Kenner, Häckel. So durchqueren &#x017F;ie, &#x017F;chwimmende Gärten von<lb/>
un&#x017F;agbarer Schönheit, die tiefblaue Meerenge von Me&#x017F;&#x017F;ina, wo<lb/>
die Natur &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;chon all ihre Wunder ver&#x017F;chwenderi&#x017F;ch gehäuft.<lb/>
So begegnen &#x017F;ie dem Seefahrer im freien Tropenozean als<lb/>
&#x017F;ogenannte Seebla&#x017F;e oder Phy&#x017F;alia: die kindskopfgroße Schwimm¬<lb/>
bla&#x017F;e auf dem Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;piegel wie getriebenes Silber, das in<lb/>
Himmelblau, Violett und Purpur &#x017F;pielt und mit einem Kamm<lb/>
von leuchtendem Karminrot gekrönt i&#x017F;t, die herabhängenden Freß-,<lb/>
Ge&#x017F;chlechts- und Verteidigungsquallen zart ultramarinblau.</p><lb/>
        <p>Und die&#x017F;er ganze &#x017F;chillernde Farbentempel <hi rendition="#g">liebt</hi> natürlich<lb/>
auch. Die&#x017F;e Liebe i&#x017F;t aber noch be&#x017F;onders lehrreich, weil &#x017F;ie<lb/>
dir zugleich klar zeigt, wie die&#x017F;es Staatsungetüm &#x201E;individuell&#x201C;<lb/>
(falls die&#x017F;es Wort hier ge&#x017F;tattet i&#x017F;t) zu&#x017F;tande kommt.</p><lb/>
        <p>Zwi&#x017F;chen den Freßtieren, Bewegungstieren, Verteidigungs¬<lb/>
tieren des Stammes &#x017F;itzen, wie erwähnt, auch rein männliche<lb/>
und weibliche Ge&#x017F;chlechtstiere &#x2014; bald beide am gleichen Stock,<lb/>
bald hier nur männliche, dort nur weibliche. Sie haben &#x017F;ich<lb/>
im Außeren noch relativ am mei&#x017F;ten ihre allgemeine Quallen¬<lb/>
ge&#x017F;talt bewahrt, &#x2014; mit dem glockenförmigen Mantel und einem<lb/>
Zapfen unter der Glocke, der wie ein Mundende aus&#x017F;chaut.<lb/>
Aber wenn du &#x017F;chärfer zu&#x017F;chau&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;ieh&#x017F;t du, daß der ver¬<lb/>
meintliche Mund zugewach&#x017F;en i&#x017F;t, &#x2014; auch hier kommt die Er¬<lb/>
nährung als direkter Nähr&#x017F;aft von den Freßgeno&#x017F;&#x017F;en in der<lb/>
Kolonie herüberge&#x017F;trömt. Dafür &#x017F;paltet die Wand des Zapfens<lb/>
hier weibliche Eier, dort männliche Samenzellen in reich&#x017F;ter<lb/>
Fülle ab. Und die &#x017F;eparat hier noch erhaltene Schwimmglocke<lb/>
hat nur den einen guten Zweck, daß &#x017F;ie unter Um&#x017F;tänden &#x017F;olcher<lb/>
Ge&#x017F;chlechtsqualle ermöglicht, bei voller Reife den Verband &#x017F;elb&#x017F;<lb/>
&#x017F;tändig zu verla&#x017F;&#x017F;en und ein Stück weit auf eigene Fau&#x017F;t zwecks<lb/>
Ab&#x017F;atz ihrer Ge&#x017F;chlechtsfracht ins offene Meer hinauszu&#x017F;egeln.</p><lb/>
        <p>Denn die Grund&#x017F;ache i&#x017F;t auch hier natürlich wieder die<lb/>
ab&#x017F;olut gleiche und ewig gleich notwendige: Samenzelle und<lb/>
Eizelle zweier ver&#x017F;chiedener &#x201E;Übertiere&#x201C;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich finden und<lb/>
vermi&#x017F;chen, auf daß der Kreislauf von vorne anhebe. Aus<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0240] Kenner, Häckel. So durchqueren ſie, ſchwimmende Gärten von unſagbarer Schönheit, die tiefblaue Meerenge von Meſſina, wo die Natur ſonſt ſchon all ihre Wunder verſchwenderiſch gehäuft. So begegnen ſie dem Seefahrer im freien Tropenozean als ſogenannte Seeblaſe oder Phyſalia: die kindskopfgroße Schwimm¬ blaſe auf dem Waſſerſpiegel wie getriebenes Silber, das in Himmelblau, Violett und Purpur ſpielt und mit einem Kamm von leuchtendem Karminrot gekrönt iſt, die herabhängenden Freß-, Geſchlechts- und Verteidigungsquallen zart ultramarinblau. Und dieſer ganze ſchillernde Farbentempel liebt natürlich auch. Dieſe Liebe iſt aber noch beſonders lehrreich, weil ſie dir zugleich klar zeigt, wie dieſes Staatsungetüm „individuell“ (falls dieſes Wort hier geſtattet iſt) zuſtande kommt. Zwiſchen den Freßtieren, Bewegungstieren, Verteidigungs¬ tieren des Stammes ſitzen, wie erwähnt, auch rein männliche und weibliche Geſchlechtstiere — bald beide am gleichen Stock, bald hier nur männliche, dort nur weibliche. Sie haben ſich im Außeren noch relativ am meiſten ihre allgemeine Quallen¬ geſtalt bewahrt, — mit dem glockenförmigen Mantel und einem Zapfen unter der Glocke, der wie ein Mundende ausſchaut. Aber wenn du ſchärfer zuſchauſt, ſo ſiehſt du, daß der ver¬ meintliche Mund zugewachſen iſt, — auch hier kommt die Er¬ nährung als direkter Nährſaft von den Freßgenoſſen in der Kolonie herübergeſtrömt. Dafür ſpaltet die Wand des Zapfens hier weibliche Eier, dort männliche Samenzellen in reichſter Fülle ab. Und die ſeparat hier noch erhaltene Schwimmglocke hat nur den einen guten Zweck, daß ſie unter Umſtänden ſolcher Geſchlechtsqualle ermöglicht, bei voller Reife den Verband ſelbſt¬ ſtändig zu verlaſſen und ein Stück weit auf eigene Fauſt zwecks Abſatz ihrer Geſchlechtsfracht ins offene Meer hinauszuſegeln. Denn die Grundſache iſt auch hier natürlich wieder die abſolut gleiche und ewig gleich notwendige: Samenzelle und Eizelle zweier verſchiedener „Übertiere“ müſſen ſich finden und vermiſchen, auf daß der Kreislauf von vorne anhebe. Aus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/240
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/240>, abgerufen am 22.11.2024.