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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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Drücke dein Haupt hier an das Granitstück, das fern von
Norwegen her mit den Gletschern der Eiszeit einst in diese Sand¬
ebene getrieben ist, -- und schließe einen Moment deine Augen.

Die alte Legende: Und Jakob kam an einen Ort, da blieb
er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er
nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu seinen Häupten
und legte sich schlafen. Und ihn träumte: eine Leiter stand
auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel und die
Engel Gottes stiegen daran auf und nieder .....

Der Naturforscher von heute rührt an deine Stirn und
auch dir wächst eine Himmelsleiter auf.

Der Mensch ist der Himmel der Erde, er hat zuerst den
goldenen Sternenhimmel über ihr mit Bewußtsein geschaut. Er
hat sich selber mit ihr eine Heimat gebaut in einem überirdi¬
schen Geistes-Firmament. Er hat Gott geschaffen, in der Kunst,
im Ideal, in der Wahrheit, in sich selbst. Zu diesem Menschen
aufwärts aber ragt die ungeheure Leiter des Gewordenen.
Gestalt um Gestalt, noch lebende wie längst verschollene, steigen
daran auf und ab: -- alle die Lebensformen, die tiefer auf
Erden sind als der Mensch. Ein riesiger Stammbaum, du
moderner Träumer, ist deine Himmelsleiter, Sprosse um Sprosse,
Ast an Ast.

Unten die Urzelle, das Erstlebendige, das noch nicht Tier,
noch Pflanze ist. Dann die Zellengemeinschaft, wie sie als
Volvoxkugel vor dir schwamm. Solche Zellengemeinschaften
hier sich heraufgipfelnd zur Pflanze, zum Farnkraut, zur
Kiefer, zur Erika dieses Heiderains. Dort durch die Gliede¬
rung in Magen und Haut, durch eine bestimmte, andersartige
Arbeitsteilung im Bunde mit anderer Atmungs- und Ernäh¬
rungsart sich auswachsend zur Gasträa, zum Urmagentier mit
Mund, Magen und Haut. Und über der Gasträa dann das
ganze vielgestaltige Tierreich, Leiter neben Leiter, -- bis end¬
lich auf einer höchsten der Mensch mit dem sonnenhaften Auge
Goethes ragt.

Drücke dein Haupt hier an das Granitſtück, das fern von
Norwegen her mit den Gletſchern der Eiszeit einſt in dieſe Sand¬
ebene getrieben iſt, — und ſchließe einen Moment deine Augen.

Die alte Legende: Und Jakob kam an einen Ort, da blieb
er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er
nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu ſeinen Häupten
und legte ſich ſchlafen. Und ihn träumte: eine Leiter ſtand
auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel und die
Engel Gottes ſtiegen daran auf und nieder .....

Der Naturforſcher von heute rührt an deine Stirn und
auch dir wächſt eine Himmelsleiter auf.

Der Menſch iſt der Himmel der Erde, er hat zuerſt den
goldenen Sternenhimmel über ihr mit Bewußtſein geſchaut. Er
hat ſich ſelber mit ihr eine Heimat gebaut in einem überirdi¬
ſchen Geiſtes-Firmament. Er hat Gott geſchaffen, in der Kunſt,
im Ideal, in der Wahrheit, in ſich ſelbſt. Zu dieſem Menſchen
aufwärts aber ragt die ungeheure Leiter des Gewordenen.
Geſtalt um Geſtalt, noch lebende wie längſt verſchollene, ſteigen
daran auf und ab: — alle die Lebensformen, die tiefer auf
Erden ſind als der Menſch. Ein rieſiger Stammbaum, du
moderner Träumer, iſt deine Himmelsleiter, Sproſſe um Sproſſe,
Aſt an Aſt.

Unten die Urzelle, das Erſtlebendige, das noch nicht Tier,
noch Pflanze iſt. Dann die Zellengemeinſchaft, wie ſie als
Volvoxkugel vor dir ſchwamm. Solche Zellengemeinſchaften
hier ſich heraufgipfelnd zur Pflanze, zum Farnkraut, zur
Kiefer, zur Erika dieſes Heiderains. Dort durch die Gliede¬
rung in Magen und Haut, durch eine beſtimmte, andersartige
Arbeitsteilung im Bunde mit anderer Atmungs- und Ernäh¬
rungsart ſich auswachſend zur Gaſträa, zum Urmagentier mit
Mund, Magen und Haut. Und über der Gaſträa dann das
ganze vielgeſtaltige Tierreich, Leiter neben Leiter, — bis end¬
lich auf einer höchſten der Menſch mit dem ſonnenhaften Auge
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[199/0215] Drücke dein Haupt hier an das Granitſtück, das fern von Norwegen her mit den Gletſchern der Eiszeit einſt in dieſe Sand¬ ebene getrieben iſt, — und ſchließe einen Moment deine Augen. Die alte Legende: Und Jakob kam an einen Ort, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein des Orts und legte ihn zu ſeinen Häupten und legte ſich ſchlafen. Und ihn träumte: eine Leiter ſtand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel und die Engel Gottes ſtiegen daran auf und nieder ..... Der Naturforſcher von heute rührt an deine Stirn und auch dir wächſt eine Himmelsleiter auf. Der Menſch iſt der Himmel der Erde, er hat zuerſt den goldenen Sternenhimmel über ihr mit Bewußtſein geſchaut. Er hat ſich ſelber mit ihr eine Heimat gebaut in einem überirdi¬ ſchen Geiſtes-Firmament. Er hat Gott geſchaffen, in der Kunſt, im Ideal, in der Wahrheit, in ſich ſelbſt. Zu dieſem Menſchen aufwärts aber ragt die ungeheure Leiter des Gewordenen. Geſtalt um Geſtalt, noch lebende wie längſt verſchollene, ſteigen daran auf und ab: — alle die Lebensformen, die tiefer auf Erden ſind als der Menſch. Ein rieſiger Stammbaum, du moderner Träumer, iſt deine Himmelsleiter, Sproſſe um Sproſſe, Aſt an Aſt. Unten die Urzelle, das Erſtlebendige, das noch nicht Tier, noch Pflanze iſt. Dann die Zellengemeinſchaft, wie ſie als Volvoxkugel vor dir ſchwamm. Solche Zellengemeinſchaften hier ſich heraufgipfelnd zur Pflanze, zum Farnkraut, zur Kiefer, zur Erika dieſes Heiderains. Dort durch die Gliede¬ rung in Magen und Haut, durch eine beſtimmte, andersartige Arbeitsteilung im Bunde mit anderer Atmungs- und Ernäh¬ rungsart ſich auswachſend zur Gaſträa, zum Urmagentier mit Mund, Magen und Haut. Und über der Gaſträa dann das ganze vielgeſtaltige Tierreich, Leiter neben Leiter, — bis end¬ lich auf einer höchſten der Menſch mit dem ſonnenhaften Auge Goethes ragt.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/215>, abgerufen am 25.11.2024.