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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898.

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dein überschüssiger Nahrungskonsum nicht mehr einfach rastlos
in Längerwachsen, Entwickelung von Barthaaren und dergleichen
auf, sondern es spalten sich im Reservoir deines Geschlechts¬
apparates zahlreiche Samentierchen von dir ab, die mit allen
Mitteln von dir selber, von deiner Individualität fort wollen,
um jedes für sich eine weibliche Eizelle zu finden, mit der ver¬
bunden sie ein neues Individuum, einen neuen Menschen un¬
abhängig von dir, begründen können.

Nun sieh dir daneben einen anorganischen Vorgang an, --
einen furchtbar einfachen. Hier hängt ein Tropfen an der
Decke einer Höhle. Durch eine feine Ritze des Deckengesteins
ist er herabgesickert und hält sich nun hier durch die Wirkung
einer gewissen Naturkraft in der Balance. In sich geschlossen
wie er da hängt, mag er für eine kurze Weile ganz gut ein
Individuum darstellen. Nun rinnt durch die Ritze Wasser nach.
Eine Zeitlang nimmt unser Tropfen es ruhig in sich auf: er
frißt es gleichsam als Bestandteil in seine Individualität hinein.
Natürlich wächst er dabei. Die Naturkraft, die ihn hält,
scheint aber zunächst diesem Wachstum Schritt zu halten, sie
hält ihn nach wie vor. Doch das Wachstum eilt rapid dahin --
und auf einmal hat das Ganze nun doch ein Ende. Der
Tropfen, fort und fort gefüttert, wird zu "schwer". Die un¬
geheure Ziehkraft der Erde, die vom Boden der Höhle auf¬
wärts wirkt, überwiegt die relativ schwache andere Naturkraft,
die den Tropfen am Stein da oben bisher haften ließ. Mit
einem Ruck reißt der Tropfen plötzlich entzwei, -- ein kleiner
Rest bleibt oben der alten Stelle treu: der losgerissene Teil
aber fällt mit einem Platsch herab. Indem der obere Tropfen¬
rest sich durch Nachwuchs aus der speisenden Ritze rasch ergänzt,
der andere aber unten auffallend einen neuen Tropfen bildet,
hast du jetzt statt des einen zwei Individuen. Ist das nicht
eine Analogie? Du wirfst ein, hier handle es sich um einfache
Schwerkraft, bei der Fortpflanzung aber um ganz andere, von
innen heraus handelnde Kräfte. Fällt mir bei Leibe nicht ein,

dein überſchüſſiger Nahrungskonſum nicht mehr einfach raſtlos
in Längerwachſen, Entwickelung von Barthaaren und dergleichen
auf, ſondern es ſpalten ſich im Reſervoir deines Geſchlechts¬
apparates zahlreiche Samentierchen von dir ab, die mit allen
Mitteln von dir ſelber, von deiner Individualität fort wollen,
um jedes für ſich eine weibliche Eizelle zu finden, mit der ver¬
bunden ſie ein neues Individuum, einen neuen Menſchen un¬
abhängig von dir, begründen können.

Nun ſieh dir daneben einen anorganiſchen Vorgang an, —
einen furchtbar einfachen. Hier hängt ein Tropfen an der
Decke einer Höhle. Durch eine feine Ritze des Deckengeſteins
iſt er herabgeſickert und hält ſich nun hier durch die Wirkung
einer gewiſſen Naturkraft in der Balance. In ſich geſchloſſen
wie er da hängt, mag er für eine kurze Weile ganz gut ein
Individuum darſtellen. Nun rinnt durch die Ritze Waſſer nach.
Eine Zeitlang nimmt unſer Tropfen es ruhig in ſich auf: er
frißt es gleichſam als Beſtandteil in ſeine Individualität hinein.
Natürlich wächſt er dabei. Die Naturkraft, die ihn hält,
ſcheint aber zunächſt dieſem Wachstum Schritt zu halten, ſie
hält ihn nach wie vor. Doch das Wachstum eilt rapid dahin —
und auf einmal hat das Ganze nun doch ein Ende. Der
Tropfen, fort und fort gefüttert, wird zu „ſchwer“. Die un¬
geheure Ziehkraft der Erde, die vom Boden der Höhle auf¬
wärts wirkt, überwiegt die relativ ſchwache andere Naturkraft,
die den Tropfen am Stein da oben bisher haften ließ. Mit
einem Ruck reißt der Tropfen plötzlich entzwei, — ein kleiner
Reſt bleibt oben der alten Stelle treu: der losgeriſſene Teil
aber fällt mit einem Platſch herab. Indem der obere Tropfen¬
reſt ſich durch Nachwuchs aus der ſpeiſenden Ritze raſch ergänzt,
der andere aber unten auffallend einen neuen Tropfen bildet,
haſt du jetzt ſtatt des einen zwei Individuen. Iſt das nicht
eine Analogie? Du wirfſt ein, hier handle es ſich um einfache
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[119/0135] dein überſchüſſiger Nahrungskonſum nicht mehr einfach raſtlos in Längerwachſen, Entwickelung von Barthaaren und dergleichen auf, ſondern es ſpalten ſich im Reſervoir deines Geſchlechts¬ apparates zahlreiche Samentierchen von dir ab, die mit allen Mitteln von dir ſelber, von deiner Individualität fort wollen, um jedes für ſich eine weibliche Eizelle zu finden, mit der ver¬ bunden ſie ein neues Individuum, einen neuen Menſchen un¬ abhängig von dir, begründen können. Nun ſieh dir daneben einen anorganiſchen Vorgang an, — einen furchtbar einfachen. Hier hängt ein Tropfen an der Decke einer Höhle. Durch eine feine Ritze des Deckengeſteins iſt er herabgeſickert und hält ſich nun hier durch die Wirkung einer gewiſſen Naturkraft in der Balance. In ſich geſchloſſen wie er da hängt, mag er für eine kurze Weile ganz gut ein Individuum darſtellen. Nun rinnt durch die Ritze Waſſer nach. Eine Zeitlang nimmt unſer Tropfen es ruhig in ſich auf: er frißt es gleichſam als Beſtandteil in ſeine Individualität hinein. Natürlich wächſt er dabei. Die Naturkraft, die ihn hält, ſcheint aber zunächſt dieſem Wachstum Schritt zu halten, ſie hält ihn nach wie vor. Doch das Wachstum eilt rapid dahin — und auf einmal hat das Ganze nun doch ein Ende. Der Tropfen, fort und fort gefüttert, wird zu „ſchwer“. Die un¬ geheure Ziehkraft der Erde, die vom Boden der Höhle auf¬ wärts wirkt, überwiegt die relativ ſchwache andere Naturkraft, die den Tropfen am Stein da oben bisher haften ließ. Mit einem Ruck reißt der Tropfen plötzlich entzwei, — ein kleiner Reſt bleibt oben der alten Stelle treu: der losgeriſſene Teil aber fällt mit einem Platſch herab. Indem der obere Tropfen¬ reſt ſich durch Nachwuchs aus der ſpeiſenden Ritze raſch ergänzt, der andere aber unten auffallend einen neuen Tropfen bildet, haſt du jetzt ſtatt des einen zwei Individuen. Iſt das nicht eine Analogie? Du wirfſt ein, hier handle es ſich um einfache Schwerkraft, bei der Fortpflanzung aber um ganz andere, von innen heraus handelnde Kräfte. Fällt mir bei Leibe nicht ein,

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/135>, abgerufen am 24.11.2024.