Keine Muschel, keine Krebsschale, keinen Blattabdruck giebt es da mehr. Jener schwedische Strand ist unser letzter hinsichtlich aller direkten, handgreiflichen Überlieferung. Hier reißt ein Faden.
Die Tiere, die am kambrischen Strande lebten, haben noch ihr Liebesleben gehabt, -- wer wollte das bestreiten? Die Krebse, die dort gekrochen sind, mögen zum Geschlechte der so¬ genannten Trilobiten gehört haben, wunderliche Gesellen, die heute in dieser Form gar nicht mehr existieren, die in den Meeren dieser und noch der nächstfolgenden Epoche aber in ungezählten Massen sich getummelt haben müssen. Gerade von solchen Trilobiten kennt man aus kambrischen Gesteinen Böhmens (die allerdings nicht Strand-, sondern Tiefseeablagerungen zu enthalten scheinen) die ganze Entwickelung der Jungen. Man findet zahllose winzig kleine schwarze Kügelchen, die wohl die Eier sind. Und daneben eine ganze Kette von Larven- oder Jugendzuständen, -- bis endlich herauf zum fertigen Krebs. Da hat es auch Liebesakte gegeben, ganz zweifellos, und zum Zweck dieser Liebesakte erotische Gefühle. Es leben heute ge¬ wisse Krebsarten, bei denen nicht jedes weibliche Ei der männ¬ lichen Befruchtung unmittelbar bedarf, um entwickelungsfähig zu werden, -- es tritt die merkwürdige Erscheinung der so¬ genannten Parthenogenesis oder Jungfernzeugung auf. Aber daneben findet sich auch hier zeitweilig immer wieder echte Be¬ gattung. Unsere bekanntesten Krebse, der Flußkrebs, der Hummer, die Garneele, der Taschenkrebs: sie alle begatten sich regel¬ mäßig. Den befruchteten Eiern gegenüber waltet bei ihnen eine oft geradezu raffinierte Brutpflege: besondere Taschen und Hohlräume des weiblichen Körpers schützen die Eier, oder diese werden, wie wohl jeder es von unserem Flußkrebs kennt, an den Anhängen des Hinterleibes sorgsam versteckt. Vielleicht haben jene alten Trilobiten ihre Eier in selbstgegrabenen Sand¬ vertiefungen an der Flutgrenze wie in Nestern untergebracht, gleich dem lebenden Molukkenkrebs, der gerade mit den Trilo¬
Keine Muſchel, keine Krebsſchale, keinen Blattabdruck giebt es da mehr. Jener ſchwediſche Strand iſt unſer letzter hinſichtlich aller direkten, handgreiflichen Überlieferung. Hier reißt ein Faden.
Die Tiere, die am kambriſchen Strande lebten, haben noch ihr Liebesleben gehabt, — wer wollte das beſtreiten? Die Krebſe, die dort gekrochen ſind, mögen zum Geſchlechte der ſo¬ genannten Trilobiten gehört haben, wunderliche Geſellen, die heute in dieſer Form gar nicht mehr exiſtieren, die in den Meeren dieſer und noch der nächſtfolgenden Epoche aber in ungezählten Maſſen ſich getummelt haben müſſen. Gerade von ſolchen Trilobiten kennt man aus kambriſchen Geſteinen Böhmens (die allerdings nicht Strand-, ſondern Tiefſeeablagerungen zu enthalten ſcheinen) die ganze Entwickelung der Jungen. Man findet zahlloſe winzig kleine ſchwarze Kügelchen, die wohl die Eier ſind. Und daneben eine ganze Kette von Larven- oder Jugendzuſtänden, — bis endlich herauf zum fertigen Krebs. Da hat es auch Liebesakte gegeben, ganz zweifellos, und zum Zweck dieſer Liebesakte erotiſche Gefühle. Es leben heute ge¬ wiſſe Krebsarten, bei denen nicht jedes weibliche Ei der männ¬ lichen Befruchtung unmittelbar bedarf, um entwickelungsfähig zu werden, — es tritt die merkwürdige Erſcheinung der ſo¬ genannten Parthenogeneſis oder Jungfernzeugung auf. Aber daneben findet ſich auch hier zeitweilig immer wieder echte Be¬ gattung. Unſere bekannteſten Krebſe, der Flußkrebs, der Hummer, die Garneele, der Taſchenkrebs: ſie alle begatten ſich regel¬ mäßig. Den befruchteten Eiern gegenüber waltet bei ihnen eine oft geradezu raffinierte Brutpflege: beſondere Taſchen und Hohlräume des weiblichen Körpers ſchützen die Eier, oder dieſe werden, wie wohl jeder es von unſerem Flußkrebs kennt, an den Anhängen des Hinterleibes ſorgſam verſteckt. Vielleicht haben jene alten Trilobiten ihre Eier in ſelbſtgegrabenen Sand¬ vertiefungen an der Flutgrenze wie in Neſtern untergebracht, gleich dem lebenden Molukkenkrebs, der gerade mit den Trilo¬
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Keine Muſchel, keine Krebsſchale, keinen Blattabdruck giebt es
da mehr. Jener ſchwediſche Strand iſt unſer letzter hinſichtlich
aller direkten, handgreiflichen Überlieferung. Hier reißt ein
Faden.
Die Tiere, die am kambriſchen Strande lebten, haben noch
ihr Liebesleben gehabt, — wer wollte das beſtreiten? Die
Krebſe, die dort gekrochen ſind, mögen zum Geſchlechte der ſo¬
genannten Trilobiten gehört haben, wunderliche Geſellen, die
heute in dieſer Form gar nicht mehr exiſtieren, die in den
Meeren dieſer und noch der nächſtfolgenden Epoche aber in
ungezählten Maſſen ſich getummelt haben müſſen. Gerade von
ſolchen Trilobiten kennt man aus kambriſchen Geſteinen Böhmens
(die allerdings nicht Strand-, ſondern Tiefſeeablagerungen zu
enthalten ſcheinen) die ganze Entwickelung der Jungen. Man
findet zahlloſe winzig kleine ſchwarze Kügelchen, die wohl die
Eier ſind. Und daneben eine ganze Kette von Larven- oder
Jugendzuſtänden, — bis endlich herauf zum fertigen Krebs.
Da hat es auch Liebesakte gegeben, ganz zweifellos, und zum
Zweck dieſer Liebesakte erotiſche Gefühle. Es leben heute ge¬
wiſſe Krebsarten, bei denen nicht jedes weibliche Ei der männ¬
lichen Befruchtung unmittelbar bedarf, um entwickelungsfähig
zu werden, — es tritt die merkwürdige Erſcheinung der ſo¬
genannten Parthenogeneſis oder Jungfernzeugung auf. Aber
daneben findet ſich auch hier zeitweilig immer wieder echte Be¬
gattung. Unſere bekannteſten Krebſe, der Flußkrebs, der Hummer,
die Garneele, der Taſchenkrebs: ſie alle begatten ſich regel¬
mäßig. Den befruchteten Eiern gegenüber waltet bei ihnen
eine oft geradezu raffinierte Brutpflege: beſondere Taſchen und
Hohlräume des weiblichen Körpers ſchützen die Eier, oder dieſe
werden, wie wohl jeder es von unſerem Flußkrebs kennt, an
den Anhängen des Hinterleibes ſorgſam verſteckt. Vielleicht
haben jene alten Trilobiten ihre Eier in ſelbſtgegrabenen Sand¬
vertiefungen an der Flutgrenze wie in Neſtern untergebracht,
gleich dem lebenden Molukkenkrebs, der gerade mit den Trilo¬
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 1. Florenz u. a., 1898, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben01_1898/106>, abgerufen am 23.11.2024.
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