Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

Bild:
<< vorherige Seite

oder die Bekehrung.
ihm haben, zu einem Menschen, der ein so ver-
kehrtes Gemüthe hätte? Sie quälete sich mit
diesen Gedancken, und prophezeihete sich selber
viele betrübte und verdrießliche Stunden. Al-
lein die Pflicht überwand, und stärckete sie gegen
alles Leiden, das sie vorhersah.

Sie eröffnete ihrem Mann an einem hellen
Morgen die Veränderung, die sich in ihrem
Verstande zugetragen hatte, mit grosser Ge-
schicklichkeit, sie wußte dasjenige, was ihm in
ihrem Vortrage widrig oder hart scheinen konn-
te, mit angenehmen Liebkosungen und künstli-
chen Vorbiegungen gut zu machen, ohne daß
dem Nachdruck ihrer Rede etwas dadurch ab-
gegangen wäre. Sie trieb ihn auch in der That
dergestalt in die Enge, daß er ihr gestehen muß-
te, er hätte den Erweis für seine Lehrsätze nicht
in dem Verstande sonder bloß in dem Willen
gesuchet. Aber er that dieses Bekenntniß mit
einer Stirne, in welcher weder Reue noch Scham
zu erblicken war; und als sie nur ein Wort von
der Pflicht einstreuete, die erkannte Wahrheit
öffentlich zu bekennen, widersezete er sich dieser
Zumuthung mit der Hartnäckigkeit eines Bar-
barn. Er sagte: Sollte ich so manchen Erweis
auf den Grund eines lieblichen Schalles auf-
geführet haben; sollte ich so manche Beurthei-
lung der verschiedensten Sachen nach einem Lei-
sten verfasset, und nach ein Paar Regeln von
logicalischen Erklärungen alle Arten der poeti-
schen Vorstellungen gerichtet haben, damit ich
dieses gantze so krause, so mechanische, Gebäude

durch

oder die Bekehrung.
ihm haben, zu einem Menſchen, der ein ſo ver-
kehrtes Gemuͤthe haͤtte? Sie quaͤlete ſich mit
dieſen Gedancken, und prophezeihete ſich ſelber
viele betruͤbte und verdrießliche Stunden. Al-
lein die Pflicht uͤberwand, und ſtaͤrckete ſie gegen
alles Leiden, das ſie vorherſah.

Sie eroͤffnete ihrem Mann an einem hellen
Morgen die Veraͤnderung, die ſich in ihrem
Verſtande zugetragen hatte, mit groſſer Ge-
ſchicklichkeit, ſie wußte dasjenige, was ihm in
ihrem Vortrage widrig oder hart ſcheinen konn-
te, mit angenehmen Liebkoſungen und kuͤnſtli-
chen Vorbiegungen gut zu machen, ohne daß
dem Nachdruck ihrer Rede etwas dadurch ab-
gegangen waͤre. Sie trieb ihn auch in der That
dergeſtalt in die Enge, daß er ihr geſtehen muß-
te, er haͤtte den Erweis fuͤr ſeine Lehrſaͤtze nicht
in dem Verſtande ſonder bloß in dem Willen
geſuchet. Aber er that dieſes Bekenntniß mit
einer Stirne, in welcher weder Reue noch Scham
zu erblicken war; und als ſie nur ein Wort von
der Pflicht einſtreuete, die erkannte Wahrheit
oͤffentlich zu bekennen, widerſezete er ſich dieſer
Zumuthung mit der Hartnaͤckigkeit eines Bar-
barn. Er ſagte: Sollte ich ſo manchen Erweis
auf den Grund eines lieblichen Schalles auf-
gefuͤhret haben; ſollte ich ſo manche Beurthei-
lung der verſchiedenſten Sachen nach einem Lei-
ſten verfaſſet, und nach ein Paar Regeln von
logicaliſchen Erklaͤrungen alle Arten der poeti-
ſchen Vorſtellungen gerichtet haben, damit ich
dieſes gantze ſo krauſe, ſo mechaniſche, Gebaͤude

durch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0065" n="63"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">oder die Bekehrung.</hi></fw><lb/>
ihm haben, zu einem Men&#x017F;chen, der ein &#x017F;o ver-<lb/>
kehrtes Gemu&#x0364;the ha&#x0364;tte? Sie qua&#x0364;lete &#x017F;ich mit<lb/>
die&#x017F;en Gedancken, und prophezeihete &#x017F;ich &#x017F;elber<lb/>
viele betru&#x0364;bte und verdrießliche Stunden. Al-<lb/>
lein die Pflicht u&#x0364;berwand, und &#x017F;ta&#x0364;rckete &#x017F;ie gegen<lb/>
alles Leiden, das &#x017F;ie vorher&#x017F;ah.</p><lb/>
        <p>Sie ero&#x0364;ffnete ihrem Mann an einem hellen<lb/>
Morgen die Vera&#x0364;nderung, die &#x017F;ich in ihrem<lb/>
Ver&#x017F;tande zugetragen hatte, mit gro&#x017F;&#x017F;er Ge-<lb/>
&#x017F;chicklichkeit, &#x017F;ie wußte dasjenige, was ihm in<lb/>
ihrem Vortrage widrig oder hart &#x017F;cheinen konn-<lb/>
te, mit angenehmen Liebko&#x017F;ungen und ku&#x0364;n&#x017F;tli-<lb/>
chen Vorbiegungen gut zu machen, ohne daß<lb/>
dem Nachdruck ihrer Rede etwas dadurch ab-<lb/>
gegangen wa&#x0364;re. Sie trieb ihn auch in der That<lb/>
derge&#x017F;talt in die Enge, daß er ihr ge&#x017F;tehen muß-<lb/>
te, er ha&#x0364;tte den Erweis fu&#x0364;r &#x017F;eine Lehr&#x017F;a&#x0364;tze nicht<lb/>
in dem Ver&#x017F;tande &#x017F;onder bloß in dem Willen<lb/>
ge&#x017F;uchet. Aber er that die&#x017F;es Bekenntniß mit<lb/>
einer Stirne, in welcher weder Reue noch Scham<lb/>
zu erblicken war; und als &#x017F;ie nur ein Wort von<lb/>
der Pflicht ein&#x017F;treuete, die erkannte Wahrheit<lb/>
o&#x0364;ffentlich zu bekennen, wider&#x017F;ezete er &#x017F;ich die&#x017F;er<lb/>
Zumuthung mit der Hartna&#x0364;ckigkeit eines Bar-<lb/>
barn. Er &#x017F;agte: Sollte ich &#x017F;o manchen Erweis<lb/>
auf den Grund eines lieblichen Schalles auf-<lb/>
gefu&#x0364;hret haben; &#x017F;ollte ich &#x017F;o manche Beurthei-<lb/>
lung der ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Sachen nach einem Lei-<lb/>
&#x017F;ten verfa&#x017F;&#x017F;et, und nach ein Paar Regeln von<lb/>
logicali&#x017F;chen Erkla&#x0364;rungen alle Arten der poeti-<lb/>
&#x017F;chen Vor&#x017F;tellungen gerichtet haben, damit ich<lb/>
die&#x017F;es gantze &#x017F;o krau&#x017F;e, &#x017F;o mechani&#x017F;che, Geba&#x0364;ude<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">durch</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[63/0065] oder die Bekehrung. ihm haben, zu einem Menſchen, der ein ſo ver- kehrtes Gemuͤthe haͤtte? Sie quaͤlete ſich mit dieſen Gedancken, und prophezeihete ſich ſelber viele betruͤbte und verdrießliche Stunden. Al- lein die Pflicht uͤberwand, und ſtaͤrckete ſie gegen alles Leiden, das ſie vorherſah. Sie eroͤffnete ihrem Mann an einem hellen Morgen die Veraͤnderung, die ſich in ihrem Verſtande zugetragen hatte, mit groſſer Ge- ſchicklichkeit, ſie wußte dasjenige, was ihm in ihrem Vortrage widrig oder hart ſcheinen konn- te, mit angenehmen Liebkoſungen und kuͤnſtli- chen Vorbiegungen gut zu machen, ohne daß dem Nachdruck ihrer Rede etwas dadurch ab- gegangen waͤre. Sie trieb ihn auch in der That dergeſtalt in die Enge, daß er ihr geſtehen muß- te, er haͤtte den Erweis fuͤr ſeine Lehrſaͤtze nicht in dem Verſtande ſonder bloß in dem Willen geſuchet. Aber er that dieſes Bekenntniß mit einer Stirne, in welcher weder Reue noch Scham zu erblicken war; und als ſie nur ein Wort von der Pflicht einſtreuete, die erkannte Wahrheit oͤffentlich zu bekennen, widerſezete er ſich dieſer Zumuthung mit der Hartnaͤckigkeit eines Bar- barn. Er ſagte: Sollte ich ſo manchen Erweis auf den Grund eines lieblichen Schalles auf- gefuͤhret haben; ſollte ich ſo manche Beurthei- lung der verſchiedenſten Sachen nach einem Lei- ſten verfaſſet, und nach ein Paar Regeln von logicaliſchen Erklaͤrungen alle Arten der poeti- ſchen Vorſtellungen gerichtet haben, damit ich dieſes gantze ſo krauſe, ſo mechaniſche, Gebaͤude durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/65
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/65>, abgerufen am 27.11.2024.