Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744.

Bild:
<< vorherige Seite

Strukaras, oder die Bekehrung.
in sich fassete, und daß, wenn man sie in ih-
rer Reinigkeit redete, die Gedancken und Bil-
der unter den Redensarten und Wörtern von
sich selber entstühnden, und sich in Sätze und
Ordnung stellten. Was denn in derselben nicht
erhöret war, was von andern gedacht wor-
den, und ihm zu dencken zuschwer war, das er-
klärete er vor barbarisch, und vor unergründ-
lich. Er machte diese Sprache zur Richtschnur
der Poesie der Alten und der Neuern, und ver-
bannete also alle die herrlichsten Bilder und Vor-
stellungen aus derselben. Homer, Virgil und
Ovidius, wenn er sie in seiner Sprache reden
ließ, verlohren ihre lebhafteste Munterkeit, und
ihr hellestes Licht. Aber er schwur, daß sie da-
durch nur regelmässiger und von besserm Ge-
schmack geworden wären. Seine Geschicklich-
keit zum verführen war so gar fein nicht, und
man höret nicht, daß ein erwachsener Mensch,
dessen Verstand und Geschmack zur Reife gelan-
get gewesen, von ihm wäre betrogen worden:
Er gab sich auch mit solchen keine Mühe, son-
dern machete sich nur an Jünglinge, welche noch
keine nette Begriffe hatten. Dieselben über-
zeugete er von seinen Lehren mit einer hohen Mi-
ne, und mit einem ausgestreckten Arm. Er zog
sie in Kleinigkeiten so zärtlich, und so weibisch,
daß sie die starcke und gesunde Nahrung in den
unsterblichen Schriften der Griechen und Latei-
ner nicht mehr ertragen mogten. Eine Zeile
voller Begriffe drückete sie, und der Vers floß
ihnen nicht, wenn sich ihm ein ungewöhnlicher

Gedan-
D 4

Strukaras, oder die Bekehrung.
in ſich faſſete, und daß, wenn man ſie in ih-
rer Reinigkeit redete, die Gedancken und Bil-
der unter den Redensarten und Woͤrtern von
ſich ſelber entſtuͤhnden, und ſich in Saͤtze und
Ordnung ſtellten. Was denn in derſelben nicht
erhoͤret war, was von andern gedacht wor-
den, und ihm zu dencken zuſchwer war, das er-
klaͤrete er vor barbariſch, und vor unergruͤnd-
lich. Er machte dieſe Sprache zur Richtſchnur
der Poeſie der Alten und der Neuern, und ver-
bannete alſo alle die herrlichſten Bilder und Vor-
ſtellungen aus derſelben. Homer, Virgil und
Ovidius, wenn er ſie in ſeiner Sprache reden
ließ, verlohren ihre lebhafteſte Munterkeit, und
ihr helleſtes Licht. Aber er ſchwur, daß ſie da-
durch nur regelmaͤſſiger und von beſſerm Ge-
ſchmack geworden waͤren. Seine Geſchicklich-
keit zum verfuͤhren war ſo gar fein nicht, und
man hoͤret nicht, daß ein erwachſener Menſch,
deſſen Verſtand und Geſchmack zur Reife gelan-
get geweſen, von ihm waͤre betrogen worden:
Er gab ſich auch mit ſolchen keine Muͤhe, ſon-
dern machete ſich nur an Juͤnglinge, welche noch
keine nette Begriffe hatten. Dieſelben uͤber-
zeugete er von ſeinen Lehren mit einer hohen Mi-
ne, und mit einem ausgeſtreckten Arm. Er zog
ſie in Kleinigkeiten ſo zaͤrtlich, und ſo weibiſch,
daß ſie die ſtarcke und geſunde Nahrung in den
unſterblichen Schriften der Griechen und Latei-
ner nicht mehr ertragen mogten. Eine Zeile
voller Begriffe druͤckete ſie, und der Vers floß
ihnen nicht, wenn ſich ihm ein ungewoͤhnlicher

Gedan-
D 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0057" n="55"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Strukaras, oder die Bekehrung.</hi></fw><lb/>
in &#x017F;ich fa&#x017F;&#x017F;ete, und daß, wenn man &#x017F;ie in ih-<lb/>
rer Reinigkeit redete, die Gedancken und Bil-<lb/>
der unter den Redensarten und Wo&#x0364;rtern von<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elber ent&#x017F;tu&#x0364;hnden, und &#x017F;ich in Sa&#x0364;tze und<lb/>
Ordnung &#x017F;tellten. Was denn in der&#x017F;elben nicht<lb/>
erho&#x0364;ret war, was von andern gedacht wor-<lb/>
den, und ihm zu dencken zu&#x017F;chwer war, das er-<lb/>
kla&#x0364;rete er vor barbari&#x017F;ch, und vor unergru&#x0364;nd-<lb/>
lich. Er machte die&#x017F;e Sprache zur Richt&#x017F;chnur<lb/>
der Poe&#x017F;ie der Alten und der Neuern, und ver-<lb/>
bannete al&#x017F;o alle die herrlich&#x017F;ten Bilder und Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen aus der&#x017F;elben. Homer, Virgil und<lb/>
Ovidius, wenn er &#x017F;ie in &#x017F;einer Sprache reden<lb/>
ließ, verlohren ihre lebhafte&#x017F;te Munterkeit, und<lb/>
ihr helle&#x017F;tes Licht. Aber er &#x017F;chwur, daß &#x017F;ie da-<lb/>
durch nur regelma&#x0364;&#x017F;&#x017F;iger und von be&#x017F;&#x017F;erm Ge-<lb/>
&#x017F;chmack geworden wa&#x0364;ren. Seine Ge&#x017F;chicklich-<lb/>
keit zum verfu&#x0364;hren war &#x017F;o gar fein nicht, und<lb/>
man ho&#x0364;ret nicht, daß ein erwach&#x017F;ener Men&#x017F;ch,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Ver&#x017F;tand und Ge&#x017F;chmack zur Reife gelan-<lb/>
get gewe&#x017F;en, von ihm wa&#x0364;re betrogen worden:<lb/>
Er gab &#x017F;ich auch mit &#x017F;olchen keine Mu&#x0364;he, &#x017F;on-<lb/>
dern machete &#x017F;ich nur an Ju&#x0364;nglinge, welche noch<lb/>
keine nette Begriffe hatten. Die&#x017F;elben u&#x0364;ber-<lb/>
zeugete er von &#x017F;einen Lehren mit einer hohen Mi-<lb/>
ne, und mit einem ausge&#x017F;treckten Arm. Er zog<lb/>
&#x017F;ie in Kleinigkeiten &#x017F;o za&#x0364;rtlich, und &#x017F;o weibi&#x017F;ch,<lb/>
daß &#x017F;ie die &#x017F;tarcke und ge&#x017F;unde Nahrung in den<lb/>
un&#x017F;terblichen Schriften der Griechen und Latei-<lb/>
ner nicht mehr ertragen mogten. Eine Zeile<lb/>
voller Begriffe dru&#x0364;ckete &#x017F;ie, und der Vers floß<lb/>
ihnen nicht, wenn &#x017F;ich ihm ein ungewo&#x0364;hnlicher<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D 4</fw><fw place="bottom" type="catch">Gedan-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0057] Strukaras, oder die Bekehrung. in ſich faſſete, und daß, wenn man ſie in ih- rer Reinigkeit redete, die Gedancken und Bil- der unter den Redensarten und Woͤrtern von ſich ſelber entſtuͤhnden, und ſich in Saͤtze und Ordnung ſtellten. Was denn in derſelben nicht erhoͤret war, was von andern gedacht wor- den, und ihm zu dencken zuſchwer war, das er- klaͤrete er vor barbariſch, und vor unergruͤnd- lich. Er machte dieſe Sprache zur Richtſchnur der Poeſie der Alten und der Neuern, und ver- bannete alſo alle die herrlichſten Bilder und Vor- ſtellungen aus derſelben. Homer, Virgil und Ovidius, wenn er ſie in ſeiner Sprache reden ließ, verlohren ihre lebhafteſte Munterkeit, und ihr helleſtes Licht. Aber er ſchwur, daß ſie da- durch nur regelmaͤſſiger und von beſſerm Ge- ſchmack geworden waͤren. Seine Geſchicklich- keit zum verfuͤhren war ſo gar fein nicht, und man hoͤret nicht, daß ein erwachſener Menſch, deſſen Verſtand und Geſchmack zur Reife gelan- get geweſen, von ihm waͤre betrogen worden: Er gab ſich auch mit ſolchen keine Muͤhe, ſon- dern machete ſich nur an Juͤnglinge, welche noch keine nette Begriffe hatten. Dieſelben uͤber- zeugete er von ſeinen Lehren mit einer hohen Mi- ne, und mit einem ausgeſtreckten Arm. Er zog ſie in Kleinigkeiten ſo zaͤrtlich, und ſo weibiſch, daß ſie die ſtarcke und geſunde Nahrung in den unſterblichen Schriften der Griechen und Latei- ner nicht mehr ertragen mogten. Eine Zeile voller Begriffe druͤckete ſie, und der Vers floß ihnen nicht, wenn ſich ihm ein ungewoͤhnlicher Gedan- D 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/57
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 12. Zürich, 1744, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung12_1744/57>, abgerufen am 22.11.2024.