[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 10. Zürich, 1743.Vatry Gedanken von den Chören. Die Tragödie, die dergestalt angesehen wird, Vatry Gedanken von den Choͤren. Die Tragoͤdie, die dergeſtalt angeſehen wird, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0094" n="94"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Vatry Gedanken von den Choͤren.</hi> </fw><lb/> <p>Die Tragoͤdie, die dergeſtalt angeſehen wird,<lb/> hat ihre eigenen Leidenſchaften; alle ihre Vollkom-<lb/> menheit beſteht darinnen, daß ſie dieſe rechtſchaf-<lb/> fen in die Gemuͤther einpraͤge, und dazu dieneten<lb/> die Choͤre. Jedermann kennt die Macht der Muſik<lb/> und des Tantzes, und weiß aus eigener Erfahrung,<lb/> was vor Eindruͤcke ſie tuͤchtig ſind zu machen. Al-<lb/> ſo dieneten die Choͤre mittelſt dieſer beyden unge-<lb/> mein viel, die Leidenſchaften zu erregen. Es muͤſ-<lb/> ſen <hi rendition="#aq">Intermedia</hi> ſeyn, aber darum muß man die Zu-<lb/> ſeher nicht erkalten laſſen; vielmehr muß man die<lb/> Leidenſchaften, die man einmahl rege gemacht, in<lb/> der Hoͤhe behalten und verſtaͤrcken. Nichts thut<lb/> dieſes beſſer als die Choͤre, die durch ihre Taͤntze<lb/> und Geſaͤnge die Geiſter mit Jdeen der Materie<lb/> gemaͤß anfuͤlleten, und dadurch den Empfindungen,<lb/> welche die Reden der Perſonen erreget hatten, eine<lb/> neue Staͤrcke mittheileten. Ueberdieß dieneten die<lb/> Choͤre die Leidenſchaften zu erregen, indem ſie den<lb/> Zuſehern andere Zuſeher, die ſtarck geruͤhret wa-<lb/> ren, vor Augen brachten. Es muß eben nicht ein<lb/> grauſamer oder ein jaͤmmerlicher Anblick ſeyn, der<lb/> uns Furcht oder Mitleiden einjagen ſoll; es iſt oͤf-<lb/> ters ſchon genug, daß wir jemand ſehen, der von<lb/> dieſen beyden Leidenſchaſten heftig eingenommen iſt,<lb/> wenn wir dieſelben ebenfalls empfinden ſollen.</p> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [94/0094]
Vatry Gedanken von den Choͤren.
Die Tragoͤdie, die dergeſtalt angeſehen wird,
hat ihre eigenen Leidenſchaften; alle ihre Vollkom-
menheit beſteht darinnen, daß ſie dieſe rechtſchaf-
fen in die Gemuͤther einpraͤge, und dazu dieneten
die Choͤre. Jedermann kennt die Macht der Muſik
und des Tantzes, und weiß aus eigener Erfahrung,
was vor Eindruͤcke ſie tuͤchtig ſind zu machen. Al-
ſo dieneten die Choͤre mittelſt dieſer beyden unge-
mein viel, die Leidenſchaften zu erregen. Es muͤſ-
ſen Intermedia ſeyn, aber darum muß man die Zu-
ſeher nicht erkalten laſſen; vielmehr muß man die
Leidenſchaften, die man einmahl rege gemacht, in
der Hoͤhe behalten und verſtaͤrcken. Nichts thut
dieſes beſſer als die Choͤre, die durch ihre Taͤntze
und Geſaͤnge die Geiſter mit Jdeen der Materie
gemaͤß anfuͤlleten, und dadurch den Empfindungen,
welche die Reden der Perſonen erreget hatten, eine
neue Staͤrcke mittheileten. Ueberdieß dieneten die
Choͤre die Leidenſchaften zu erregen, indem ſie den
Zuſehern andere Zuſeher, die ſtarck geruͤhret wa-
ren, vor Augen brachten. Es muß eben nicht ein
grauſamer oder ein jaͤmmerlicher Anblick ſeyn, der
uns Furcht oder Mitleiden einjagen ſoll; es iſt oͤf-
ters ſchon genug, daß wir jemand ſehen, der von
dieſen beyden Leidenſchaſten heftig eingenommen iſt,
wenn wir dieſelben ebenfalls empfinden ſollen.
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