[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 8. Zürich, 1743.des vierzehnten Jahrhunderts. VI. Der Geißbock und der Löwe. ES suchte seine Weid in Hungersnoth Ein Geißbock, wie es ihm sein Naturell gebot. Er gieng sehr hoch in einer Fluh (a); Kein Thier kam' ihm daselbsten zu. Da sah er einen grimmgen Löwen Weit unter ihm im ebnen Boden stehen. Der sprach zu ihm mit hingelegtem Grimme Und einem sanften Ton der Stimme: Mich wundert, daß du magst dein Leben Um solche schlechte Speise geben. Dein Steig ist alles Schreckens voll, So hoch daß niemand ihn betreten soll. Auf Speise dort zu gehn, ist gar nicht gut; Mißlänge dem, der dieses thut, So hieß es, ihm geschähe recht: Hierunten ist der Weg nicht schlecht, Hierunten wo der Klee, und Gras und Blumen stehn. Hier giebt es auserlesne Weide. Kehr denn hieher auf diese Heide. Verlaß die Felsen ohne Reue, Und komm herab auf meine Treue. Der Geißbock ward in seinen Sinnen, Des Löwens bösen Willen innen. Jch weis, sprach er, du sagest recht: Das Wort ist gut, der Wille schlecht. Dein Hertz ist bös, dein Rath ist gut. Hätt ich darunten meine Hut So gut als hier, ich nähme bald Dort meinen bessern Aufenthalt. Nun mag ich dort nicht sicher ruhn, Drum kan ich dir nicht Folge thun. Die (a) Vocab. antiquum Alpinis nostris usitatissimum.
des vierzehnten Jahrhunderts. VI. Der Geißbock und der Loͤwe. ES ſuchte ſeine Weid in Hungersnoth Ein Geißbock, wie es ihm ſein Naturell gebot. Er gieng ſehr hoch in einer Fluh (a); Kein Thier kam’ ihm daſelbſten zu. Da ſah er einen grimmgen Loͤwen Weit unter ihm im ebnen Boden ſtehen. Der ſprach zu ihm mit hingelegtem Grimme Und einem ſanften Ton der Stimme: Mich wundert, daß du magſt dein Leben Um ſolche ſchlechte Speiſe geben. Dein Steig iſt alles Schreckens voll, So hoch daß niemand ihn betreten ſoll. Auf Speiſe dort zu gehn, iſt gar nicht gut; Mißlaͤnge dem, der dieſes thut, So hieß es, ihm geſchaͤhe recht: Hierunten iſt der Weg nicht ſchlecht, Hierunten wo der Klee, und Gras und Blumen ſtehn. Hier giebt es auserleſne Weide. Kehr denn hieher auf dieſe Heide. Verlaß die Felſen ohne Reue, Und komm herab auf meine Treue. Der Geißbock ward in ſeinen Sinnen, Des Loͤwens boͤſen Willen innen. Jch weis, ſprach er, du ſageſt recht: Das Wort iſt gut, der Wille ſchlecht. Dein Hertz iſt boͤs, dein Rath iſt gut. Haͤtt ich darunten meine Hut So gut als hier, ich naͤhme bald Dort meinen beſſern Aufenthalt. Nun mag ich dort nicht ſicher ruhn, Drum kan ich dir nicht Folge thun. Die (a) Vocab. antiquum Alpinis noſtris uſitatiſſimum.
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des vierzehnten Jahrhunderts.
VI.
Der Geißbock und der
Loͤwe.
ES ſuchte ſeine Weid in Hungersnoth
Ein Geißbock, wie es ihm ſein Naturell gebot.
Er gieng ſehr hoch in einer Fluh (a);
Kein Thier kam’ ihm daſelbſten zu.
Da ſah er einen grimmgen Loͤwen
Weit unter ihm im ebnen Boden ſtehen.
Der ſprach zu ihm mit hingelegtem Grimme
Und einem ſanften Ton der Stimme:
Mich wundert, daß du magſt dein Leben
Um ſolche ſchlechte Speiſe geben.
Dein Steig iſt alles Schreckens voll,
So hoch daß niemand ihn betreten ſoll.
Auf Speiſe dort zu gehn, iſt gar nicht gut;
Mißlaͤnge dem, der dieſes thut,
So hieß es, ihm geſchaͤhe recht:
Hierunten iſt der Weg nicht ſchlecht,
Hierunten wo der Klee, und Gras und Blumen ſtehn.
Hier giebt es auserleſne Weide.
Kehr denn hieher auf dieſe Heide.
Verlaß die Felſen ohne Reue,
Und komm herab auf meine Treue.
Der Geißbock ward in ſeinen Sinnen,
Des Loͤwens boͤſen Willen innen.
Jch weis, ſprach er, du ſageſt recht:
Das Wort iſt gut, der Wille ſchlecht.
Dein Hertz iſt boͤs, dein Rath iſt gut.
Haͤtt ich darunten meine Hut
So gut als hier, ich naͤhme bald
Dort meinen beſſern Aufenthalt.
Nun mag ich dort nicht ſicher ruhn,
Drum kan ich dir nicht Folge thun.
Die
(a) Vocab. antiquum Alpinis noſtris uſitatiſſimum.
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