[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 7. Zürich, 1743.für die epische Poesie. Cörper sind durch keine strenge Arbeit abgenu-zet, ihre Gemüther nicht daniedergeschlagen. Jhr Leben ist ohne Kummer, ohne Ehrgeitz, voller Wechsel und Verschiedenheit: Das Herumstrei- chen aus einem kleinen Staat in den andern be- reichert ihre Phantasie für sich selbst. Jhre öf- tere Einsamkeit führet sie auf das Denken, so wie die Lustbarkeiten, die einander wechselsweise ab- lösen, davon abführen. Wenn wir alleine sind, so sind wir genöthiget, uns mit uns selbst zu un- terhalten. Wir müssen uns zusammenraffen, und in uns hineinschauen, ob etwas vorhanden sey, was unsere Aufmerksamkeit verdiene. Jn der Ge- sellschaft zerstreuet das Aufsehen, das wir auf einen jeden haben müssen, das Gemüthe, und hindert es am überlegen. Ein Mittel wenig zu denken ist, daß man von einer Kurtzweil zur an- dern forteile, damit man so sich selbst entfliehe. Aber der Mensch, der einfältig lebt, und zu Zei- ten von dem Getümmel des Lebens beyseits geht, geniesset ein ächteres Ergetzen: Er erlanget von der stillen Natur entzückende Schauspiele und Gesichtespuncten, und betrachtet ihre einsamen Scenen ungestört. Er richtet sein aufmerksames Gemüthesauge ofte auf sich selbst, zeichnet seine eigenen Leidenschaften, und befestiget sich in sei- nen Empfindungen der Menschlichkeit. Es giebt zwar viele Einsame, welche dem Den- von B 4
fuͤr die epiſche Poeſie. Coͤrper ſind durch keine ſtrenge Arbeit abgenu-zet, ihre Gemuͤther nicht daniedergeſchlagen. Jhr Leben iſt ohne Kummer, ohne Ehrgeitz, voller Wechſel und Verſchiedenheit: Das Herumſtrei- chen aus einem kleinen Staat in den andern be- reichert ihre Phantaſie fuͤr ſich ſelbſt. Jhre oͤf- tere Einſamkeit fuͤhret ſie auf das Denken, ſo wie die Luſtbarkeiten, die einander wechſelsweiſe ab- loͤſen, davon abfuͤhren. Wenn wir alleine ſind, ſo ſind wir genoͤthiget, uns mit uns ſelbſt zu un- terhalten. Wir muͤſſen uns zuſammenraffen, und in uns hineinſchauen, ob etwas vorhanden ſey, was unſere Aufmerkſamkeit verdiene. Jn der Ge- ſellſchaft zerſtreuet das Aufſehen, das wir auf einen jeden haben muͤſſen, das Gemuͤthe, und hindert es am uͤberlegen. Ein Mittel wenig zu denken iſt, daß man von einer Kurtzweil zur an- dern forteile, damit man ſo ſich ſelbſt entfliehe. Aber der Menſch, der einfaͤltig lebt, und zu Zei- ten von dem Getuͤmmel des Lebens beyſeits geht, genieſſet ein aͤchteres Ergetzen: Er erlanget von der ſtillen Natur entzuͤckende Schauſpiele und Geſichtespuncten, und betrachtet ihre einſamen Scenen ungeſtoͤrt. Er richtet ſein aufmerkſames Gemuͤthesauge ofte auf ſich ſelbſt, zeichnet ſeine eigenen Leidenſchaften, und befeſtiget ſich in ſei- nen Empfindungen der Menſchlichkeit. Es giebt zwar viele Einſame, welche dem Den- von B 4
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fuͤr die epiſche Poeſie.
Coͤrper ſind durch keine ſtrenge Arbeit abgenu-
zet, ihre Gemuͤther nicht daniedergeſchlagen. Jhr
Leben iſt ohne Kummer, ohne Ehrgeitz, voller
Wechſel und Verſchiedenheit: Das Herumſtrei-
chen aus einem kleinen Staat in den andern be-
reichert ihre Phantaſie fuͤr ſich ſelbſt. Jhre oͤf-
tere Einſamkeit fuͤhret ſie auf das Denken, ſo wie
die Luſtbarkeiten, die einander wechſelsweiſe ab-
loͤſen, davon abfuͤhren. Wenn wir alleine ſind,
ſo ſind wir genoͤthiget, uns mit uns ſelbſt zu un-
terhalten. Wir muͤſſen uns zuſammenraffen, und
in uns hineinſchauen, ob etwas vorhanden ſey,
was unſere Aufmerkſamkeit verdiene. Jn der Ge-
ſellſchaft zerſtreuet das Aufſehen, das wir auf
einen jeden haben muͤſſen, das Gemuͤthe, und
hindert es am uͤberlegen. Ein Mittel wenig zu
denken iſt, daß man von einer Kurtzweil zur an-
dern forteile, damit man ſo ſich ſelbſt entfliehe.
Aber der Menſch, der einfaͤltig lebt, und zu Zei-
ten von dem Getuͤmmel des Lebens beyſeits geht,
genieſſet ein aͤchteres Ergetzen: Er erlanget von
der ſtillen Natur entzuͤckende Schauſpiele und
Geſichtespuncten, und betrachtet ihre einſamen
Scenen ungeſtoͤrt. Er richtet ſein aufmerkſames
Gemuͤthesauge ofte auf ſich ſelbſt, zeichnet ſeine
eigenen Leidenſchaften, und befeſtiget ſich in ſei-
nen Empfindungen der Menſchlichkeit.
Es giebt zwar viele Einſame, welche dem Den-
ken nicht ſonderlich ergeben ſind, und gewiſſe Leu-
te, derer Gewerb erfodert daß ſie reiſen, ſind
merklich tumm. Aber ich rede hier nicht von dem
Leben eines Anachoreten, oder Einſiedlers, noch
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