Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742.

Bild:
<< vorherige Seite

Mauvillons Brief
der ein vortreffliches Werck, das ein Aufsehen
in der Welt gemacht, aus seinem Eigenthum

her-
den
geschickt dieser Verfasser ist, die Streitfrage zu verdrehen.
Die erste ist, daß er der Benennung eines poetischen Schö-
pfers
einen weitläuftigern und unbestimmtern Verstand an-
dichtet, und dann auf den Grund des comischen Sprüch-
leins, Nil dictum est, quod non dictum sit prius, die
Möglichkeit eines solchen poetischen Schöpfers unter den
Menschen, und hiemit auch unter den Franzosen, durch-
aus läugnet. Die zweyte Anmerckung ist, daß er die Fra-
ge von vortrefflichen poetischen und andern geistreichen Schrif-
ten auf die Erfindung von gewissen Arten der Gedichte ab-
lencket, und durch diese Verdrehung der französischen Na-
tion zur Last legen will, daß sie ihre gerühmte Erfindungs-
kraft übel genug anwende. Bisdahin hat jedermann die
virgilische Aeneis, (eben wie die Satiren des Despreaux,)
für ein eigenthümliches Werck dieses berühmten Verfassers
angesehen, ob er gleich das homerische Gedichte sich zum
Muster genommen, und manches schönes Stücke daraus
in sein Werck übergetragen, und sich gantz eigen zu ma-
chen gewußt hat. Und man fodert nicht ein mehrers von der
deutschen Nation, als daß sie eben dergleichen poetische
Schöpfer, als Maro gewesen, unter ihren Landesleuten
aufweise. Allein es sind nicht alle Deutsche so ungerecht
und solche Pocher, als Hr. Magister Schwabe ist. Jn dem
11ten St. der Crit. Beyträge auf der 205ten Seite liest
man: "Die Deutschen sind zuweilen selbst so bescheiden
"g wesen, den Ausländern die Ehre der Erfindung zu-
"zuschreiben." Und in der Vorrede zu dem ersten St.
der Crit. Beyträge wird folgendes Bekenntniß abgeleget:
"So weit es unsre Nation in Vertilgung der alten Bar-
"barey, und in Abschaffung des vormahligen scythischen
"und gothischen Geschmackes in allerley Dingen gebracht:
"So wenig kan sich dieselbe rühmen, daß sie es darinnen
"ihren südlichen und westlichen Nachbarn, ich meine

Mauvillons Brief
der ein vortreffliches Werck, das ein Aufſehen
in der Welt gemacht, aus ſeinem Eigenthum

her-
den
geſchickt dieſer Verfaſſer iſt, die Streitfrage zu verdrehen.
Die erſte iſt, daß er der Benennung eines poetiſchen Schoͤ-
pfers
einen weitlaͤuftigern und unbeſtimmtern Verſtand an-
dichtet, und dann auf den Grund des comiſchen Spruͤch-
leins, Nil dictum eſt, quod non dictum ſit prius, die
Moͤglichkeit eines ſolchen poetiſchen Schoͤpfers unter den
Menſchen, und hiemit auch unter den Franzoſen, durch-
aus laͤugnet. Die zweyte Anmerckung iſt, daß er die Fra-
ge von vortrefflichen poetiſchen und andern geiſtreichen Schrif-
ten auf die Erfindung von gewiſſen Arten der Gedichte ab-
lencket, und durch dieſe Verdrehung der franzoͤſiſchen Na-
tion zur Laſt legen will, daß ſie ihre geruͤhmte Erfindungs-
kraft uͤbel genug anwende. Bisdahin hat jedermann die
virgiliſche Aeneis, (eben wie die Satiren des Deſpreaux,)
fuͤr ein eigenthuͤmliches Werck dieſes beruͤhmten Verfaſſers
angeſehen, ob er gleich das homeriſche Gedichte ſich zum
Muſter genommen, und manches ſchoͤnes Stuͤcke daraus
in ſein Werck uͤbergetragen, und ſich gantz eigen zu ma-
chen gewußt hat. Und man fodert nicht ein mehrers von der
deutſchen Nation, als daß ſie eben dergleichen poetiſche
Schoͤpfer, als Maro geweſen, unter ihren Landesleuten
aufweiſe. Allein es ſind nicht alle Deutſche ſo ungerecht
und ſolche Pocher, als Hr. Magiſter Schwabe iſt. Jn dem
11ten St. der Crit. Beytraͤge auf der 205ten Seite lieſt
man: „Die Deutſchen ſind zuweilen ſelbſt ſo beſcheiden
„g weſen, den Auslaͤndern die Ehre der Erfindung zu-
„zuſchreiben.„ Und in der Vorrede zu dem erſten St.
der Crit. Beytraͤge wird folgendes Bekenntniß abgeleget:
„So weit es unſre Nation in Vertilgung der alten Bar-
„barey, und in Abſchaffung des vormahligen ſcythiſchen
„und gothiſchen Geſchmackes in allerley Dingen gebracht:
„So wenig kan ſich dieſelbe ruͤhmen, daß ſie es darinnen
„ihren ſuͤdlichen und weſtlichen Nachbarn, ich meine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0060" n="60"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Mauvillons Brief</hi></fw><lb/>
der ein vortreffliches Werck, das ein Auf&#x017F;ehen<lb/>
in der Welt gemacht, aus &#x017F;einem Eigenthum<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">her-</fw><lb/><note xml:id="a024b" prev="#a024" place="foot" next="#a024c">ge&#x017F;chickt die&#x017F;er Verfa&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t, die Streitfrage zu verdrehen.<lb/>
Die er&#x017F;te i&#x017F;t, daß er der Benennung eines <hi rendition="#fr">poeti&#x017F;chen Scho&#x0364;-<lb/>
pfers</hi> einen weitla&#x0364;uftigern und unbe&#x017F;timmtern Ver&#x017F;tand an-<lb/>
dichtet, und dann auf den Grund des comi&#x017F;chen Spru&#x0364;ch-<lb/>
leins, <hi rendition="#aq">Nil dictum e&#x017F;t, quod non dictum &#x017F;it prius,</hi> die<lb/>
Mo&#x0364;glichkeit eines &#x017F;olchen poeti&#x017F;chen Scho&#x0364;pfers unter den<lb/>
Men&#x017F;chen, und hiemit auch unter den Franzo&#x017F;en, durch-<lb/>
aus la&#x0364;ugnet. Die zweyte Anmerckung i&#x017F;t, daß er die Fra-<lb/>
ge von vortrefflichen poeti&#x017F;chen und andern gei&#x017F;treichen Schrif-<lb/>
ten auf die Erfindung von gewi&#x017F;&#x017F;en Arten der Gedichte ab-<lb/>
lencket, und durch die&#x017F;e Verdrehung der franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Na-<lb/>
tion zur La&#x017F;t legen will, daß &#x017F;ie ihre geru&#x0364;hmte Erfindungs-<lb/>
kraft u&#x0364;bel genug anwende. Bisdahin hat jedermann die<lb/>
virgili&#x017F;che Aeneis, (eben wie die Satiren des De&#x017F;preaux,)<lb/>
fu&#x0364;r ein eigenthu&#x0364;mliches Werck die&#x017F;es beru&#x0364;hmten Verfa&#x017F;&#x017F;ers<lb/>
ange&#x017F;ehen, ob er gleich das homeri&#x017F;che Gedichte &#x017F;ich zum<lb/>
Mu&#x017F;ter genommen, und manches &#x017F;cho&#x0364;nes Stu&#x0364;cke daraus<lb/>
in &#x017F;ein Werck u&#x0364;bergetragen, und &#x017F;ich gantz eigen zu ma-<lb/>
chen gewußt hat. Und man fodert nicht ein mehrers von der<lb/>
deut&#x017F;chen Nation, als daß &#x017F;ie eben dergleichen poeti&#x017F;che<lb/>
Scho&#x0364;pfer, als Maro gewe&#x017F;en, unter ihren Landesleuten<lb/>
aufwei&#x017F;e. Allein es &#x017F;ind nicht alle Deut&#x017F;che &#x017F;o ungerecht<lb/>
und &#x017F;olche Pocher, als Hr. Magi&#x017F;ter <hi rendition="#fr">Schwabe</hi> i&#x017F;t. Jn dem<lb/>
11ten St. der <hi rendition="#fr">Crit. Beytra&#x0364;ge</hi> auf der 205ten Seite lie&#x017F;t<lb/>
man: &#x201E;Die Deut&#x017F;chen &#x017F;ind zuweilen &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;o be&#x017F;cheiden<lb/><cit><quote>&#x201E;g we&#x017F;en, den Ausla&#x0364;ndern die Ehre der Erfindung zu-<lb/>
&#x201E;zu&#x017F;chreiben.&#x201E; Und in der Vorrede zu dem er&#x017F;ten St.<lb/>
der <hi rendition="#fr">Crit. Beytra&#x0364;ge</hi> wird folgendes Bekenntniß abgeleget:<lb/>
&#x201E;So weit es un&#x017F;re Nation in Vertilgung der alten Bar-<lb/>
&#x201E;barey, und in Ab&#x017F;chaffung des vormahligen &#x017F;cythi&#x017F;chen<lb/>
&#x201E;und gothi&#x017F;chen Ge&#x017F;chmackes in allerley Dingen gebracht:<lb/>
&#x201E;So wenig kan &#x017F;ich die&#x017F;elbe ru&#x0364;hmen, <hi rendition="#fr">daß &#x017F;ie es darinnen<lb/>
&#x201E;ihren &#x017F;u&#x0364;dlichen und we&#x017F;tlichen Nachbarn, ich meine</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">den</fw></quote></cit></note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0060] Mauvillons Brief der ein vortreffliches Werck, das ein Aufſehen in der Welt gemacht, aus ſeinem Eigenthum her- geſchickt dieſer Verfaſſer iſt, die Streitfrage zu verdrehen. Die erſte iſt, daß er der Benennung eines poetiſchen Schoͤ- pfers einen weitlaͤuftigern und unbeſtimmtern Verſtand an- dichtet, und dann auf den Grund des comiſchen Spruͤch- leins, Nil dictum eſt, quod non dictum ſit prius, die Moͤglichkeit eines ſolchen poetiſchen Schoͤpfers unter den Menſchen, und hiemit auch unter den Franzoſen, durch- aus laͤugnet. Die zweyte Anmerckung iſt, daß er die Fra- ge von vortrefflichen poetiſchen und andern geiſtreichen Schrif- ten auf die Erfindung von gewiſſen Arten der Gedichte ab- lencket, und durch dieſe Verdrehung der franzoͤſiſchen Na- tion zur Laſt legen will, daß ſie ihre geruͤhmte Erfindungs- kraft uͤbel genug anwende. Bisdahin hat jedermann die virgiliſche Aeneis, (eben wie die Satiren des Deſpreaux,) fuͤr ein eigenthuͤmliches Werck dieſes beruͤhmten Verfaſſers angeſehen, ob er gleich das homeriſche Gedichte ſich zum Muſter genommen, und manches ſchoͤnes Stuͤcke daraus in ſein Werck uͤbergetragen, und ſich gantz eigen zu ma- chen gewußt hat. Und man fodert nicht ein mehrers von der deutſchen Nation, als daß ſie eben dergleichen poetiſche Schoͤpfer, als Maro geweſen, unter ihren Landesleuten aufweiſe. Allein es ſind nicht alle Deutſche ſo ungerecht und ſolche Pocher, als Hr. Magiſter Schwabe iſt. Jn dem 11ten St. der Crit. Beytraͤge auf der 205ten Seite lieſt man: „Die Deutſchen ſind zuweilen ſelbſt ſo beſcheiden „g weſen, den Auslaͤndern die Ehre der Erfindung zu- „zuſchreiben.„ Und in der Vorrede zu dem erſten St. der Crit. Beytraͤge wird folgendes Bekenntniß abgeleget: „So weit es unſre Nation in Vertilgung der alten Bar- „barey, und in Abſchaffung des vormahligen ſcythiſchen „und gothiſchen Geſchmackes in allerley Dingen gebracht: „So wenig kan ſich dieſelbe ruͤhmen, daß ſie es darinnen „ihren ſuͤdlichen und weſtlichen Nachbarn, ich meine den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742/60
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 5. Zürich, 1742, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung05_1742/60>, abgerufen am 27.11.2024.