Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 4. Zürich, 1742.

Bild:
<< vorherige Seite
Grundriß eines epischen Gedich-
tes von dem geretteten Noah.

DJe trefflichsten Kunstrichter stimmen mit ein-
ander überein, daß die Schönheiten der vor-
nehmsten poetischen Werke, und insbesondere der
Griechischen und Römischen in der Zeichnung, dem
Grundrisse, und der Zusammenordnung des gantzen
Werkes, bestehen. Sie halten die Ausbildung
eines jeglichen absonderlichen Stükes vor etwas
geringerers und schlechteres. Darum fodern sie
von dem Poeten, daß er seinen grössesten Fleiß
auf die Zeichnung seines Gedichtes wenden solle.
Er solle sich nicht allzu sorgfältig um die Ausschmü-
kung und den Zierrath bekümmern, und nicht so
sehr besorgt seyn, daß man hier und dar aus-
ruffe, was vor ein zierlicher Vers! als daß
man, nach Durchlesung des gantzen Gedichtes,
sage: Wahrhaftig ein schönes Werk! Sie ver-
langen, daß er sich hauptsächlich befleisse, ein je-
des Stücke an seinen vortheilhaftesten Platz zu stel-
len, und alle Theile dergestalt mit einander zu ver-
knüpfen, daß man die Haupthandlung nirgend
aus dem Gesichte verliere.

So groß mithin das Lob seyn mag, das ein
Werk wegen der Ordnung und Eintheilung sei-
ner Verfassung verdienet, so ist gewiß, daß alle die
Schönheiten, so daher entstehen, der Erfindungs-
kraft zu verdanken sind. Diese ist der wahre
Grundstein der Poesie, und muß der verständi-
gen Zusammenordnung und Verfassung nothwen-

dig
[Crit. Samml. IV. St.] A
Grundriß eines epiſchen Gedich-
tes von dem geretteten Noah.

DJe trefflichſten Kunſtrichter ſtimmen mit ein-
ander uͤberein, daß die Schoͤnheiten der vor-
nehmſten poetiſchen Werke, und insbeſondere der
Griechiſchen und Roͤmiſchen in der Zeichnung, dem
Grundriſſe, und der Zuſammenordnung des gantzen
Werkes, beſtehen. Sie halten die Ausbildung
eines jeglichen abſonderlichen Stuͤkes vor etwas
geringerers und ſchlechteres. Darum fodern ſie
von dem Poeten, daß er ſeinen groͤſſeſten Fleiß
auf die Zeichnung ſeines Gedichtes wenden ſolle.
Er ſolle ſich nicht allzu ſorgfaͤltig um die Ausſchmuͤ-
kung und den Zierrath bekuͤmmern, und nicht ſo
ſehr beſorgt ſeyn, daß man hier und dar aus-
ruffe, was vor ein zierlicher Vers! als daß
man, nach Durchleſung des gantzen Gedichtes,
ſage: Wahrhaftig ein ſchoͤnes Werk! Sie ver-
langen, daß er ſich hauptſaͤchlich befleiſſe, ein je-
des Stuͤcke an ſeinen vortheilhafteſten Platz zu ſtel-
len, und alle Theile dergeſtalt mit einander zu ver-
knuͤpfen, daß man die Haupthandlung nirgend
aus dem Geſichte verliere.

So groß mithin das Lob ſeyn mag, das ein
Werk wegen der Ordnung und Eintheilung ſei-
ner Verfaſſung verdienet, ſo iſt gewiß, daß alle die
Schoͤnheiten, ſo daher entſtehen, der Erfindungs-
kraft zu verdanken ſind. Dieſe iſt der wahre
Grundſtein der Poeſie, und muß der verſtaͤndi-
gen Zuſammenordnung und Verfaſſung nothwen-

dig
[Crit. Sam̃l. IV. St.] A
<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0003" n="1"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Grundriß eines epi&#x017F;chen Gedich-<lb/>
tes von dem geretteten Noah.</hi> </head><lb/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>Je trefflich&#x017F;ten Kun&#x017F;trichter &#x017F;timmen mit ein-<lb/>
ander u&#x0364;berein, daß die Scho&#x0364;nheiten der vor-<lb/>
nehm&#x017F;ten poeti&#x017F;chen Werke, und insbe&#x017F;ondere der<lb/>
Griechi&#x017F;chen und Ro&#x0364;mi&#x017F;chen in der Zeichnung, dem<lb/>
Grundri&#x017F;&#x017F;e, und der Zu&#x017F;ammenordnung des gantzen<lb/>
Werkes, be&#x017F;tehen. Sie halten die Ausbildung<lb/>
eines jeglichen ab&#x017F;onderlichen Stu&#x0364;kes vor etwas<lb/>
geringerers und &#x017F;chlechteres. Darum fodern &#x017F;ie<lb/>
von dem Poeten, daß er &#x017F;einen gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ten Fleiß<lb/>
auf die Zeichnung &#x017F;eines Gedichtes wenden &#x017F;olle.<lb/>
Er &#x017F;olle &#x017F;ich nicht allzu &#x017F;orgfa&#x0364;ltig um die Aus&#x017F;chmu&#x0364;-<lb/>
kung und den Zierrath beku&#x0364;mmern, und nicht &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehr be&#x017F;orgt &#x017F;eyn, daß man hier und dar aus-<lb/>
ruffe, <hi rendition="#fr">was vor ein zierlicher Vers!</hi> als daß<lb/>
man, nach Durchle&#x017F;ung des gantzen Gedichtes,<lb/>
&#x017F;age: <hi rendition="#fr">Wahrhaftig ein &#x017F;cho&#x0364;nes Werk!</hi> Sie ver-<lb/>
langen, daß er &#x017F;ich haupt&#x017F;a&#x0364;chlich beflei&#x017F;&#x017F;e, ein je-<lb/>
des Stu&#x0364;cke an &#x017F;einen vortheilhafte&#x017F;ten Platz zu &#x017F;tel-<lb/>
len, und alle Theile derge&#x017F;talt mit einander zu ver-<lb/>
knu&#x0364;pfen, daß man die Haupthandlung nirgend<lb/>
aus dem Ge&#x017F;ichte verliere.</p><lb/>
        <p>So groß mithin das Lob &#x017F;eyn mag, das ein<lb/>
Werk wegen der Ordnung und Eintheilung &#x017F;ei-<lb/>
ner Verfa&#x017F;&#x017F;ung verdienet, &#x017F;o i&#x017F;t gewiß, daß alle die<lb/>
Scho&#x0364;nheiten, &#x017F;o daher ent&#x017F;tehen, der Erfindungs-<lb/>
kraft zu verdanken &#x017F;ind. Die&#x017F;e i&#x017F;t der wahre<lb/>
Grund&#x017F;tein der Poe&#x017F;ie, und muß der ver&#x017F;ta&#x0364;ndi-<lb/>
gen Zu&#x017F;ammenordnung und Verfa&#x017F;&#x017F;ung nothwen-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">[Crit. Sam&#x0303;l. <hi rendition="#aq">IV.</hi> St.] A</fw><fw place="bottom" type="catch">dig</fw><lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[1/0003] Grundriß eines epiſchen Gedich- tes von dem geretteten Noah. DJe trefflichſten Kunſtrichter ſtimmen mit ein- ander uͤberein, daß die Schoͤnheiten der vor- nehmſten poetiſchen Werke, und insbeſondere der Griechiſchen und Roͤmiſchen in der Zeichnung, dem Grundriſſe, und der Zuſammenordnung des gantzen Werkes, beſtehen. Sie halten die Ausbildung eines jeglichen abſonderlichen Stuͤkes vor etwas geringerers und ſchlechteres. Darum fodern ſie von dem Poeten, daß er ſeinen groͤſſeſten Fleiß auf die Zeichnung ſeines Gedichtes wenden ſolle. Er ſolle ſich nicht allzu ſorgfaͤltig um die Ausſchmuͤ- kung und den Zierrath bekuͤmmern, und nicht ſo ſehr beſorgt ſeyn, daß man hier und dar aus- ruffe, was vor ein zierlicher Vers! als daß man, nach Durchleſung des gantzen Gedichtes, ſage: Wahrhaftig ein ſchoͤnes Werk! Sie ver- langen, daß er ſich hauptſaͤchlich befleiſſe, ein je- des Stuͤcke an ſeinen vortheilhafteſten Platz zu ſtel- len, und alle Theile dergeſtalt mit einander zu ver- knuͤpfen, daß man die Haupthandlung nirgend aus dem Geſichte verliere. So groß mithin das Lob ſeyn mag, das ein Werk wegen der Ordnung und Eintheilung ſei- ner Verfaſſung verdienet, ſo iſt gewiß, daß alle die Schoͤnheiten, ſo daher entſtehen, der Erfindungs- kraft zu verdanken ſind. Dieſe iſt der wahre Grundſtein der Poeſie, und muß der verſtaͤndi- gen Zuſammenordnung und Verfaſſung nothwen- dig [Crit. Sam̃l. IV. St.] A

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung04_1742
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung04_1742/3
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 4. Zürich, 1742, S. 1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung04_1742/3>, abgerufen am 25.12.2024.