"Löset diese Versezung auf, und stellet diese Wor- "te in eine grammatische Ordnung, so wird alle "ihre Cadantz, ihre Pracht, ihre Anmuth und "Harmonie wegfallen. Wie furchtsam und wie "angsthaft ist hingegen unsre Sprache? Soll- "ten wir folgenden Vers, in welchem alle Wor- "te von ihrer Stelle gehoben sind, nachmachen "dürffen? "Aret ager, vitio moriens sitit aeris herba. "Wenn Horatz seinen Leser zu irgend einem vor- "nehmen Gegenstande vorbereiten will, so füh- "ret er ihn mit sich fort, ohne daß er ihm sage, "wohin er gehen wolle, und ohne daß er ihn aus- "rasten lasse: Qualem ministrum fluminis alitem &c.
Der Herr Fenelon gedenket nach diesem, wie man auch in der französischen Sprache dergleichen Ver- sezungen einführen könnte:
"Jch bekenne, sagt "er, daß man nicht auf einmahl eine grosse Zahl "solcher Versezungen anbringen muß. Man ist "derselben nicht gewohnet, sie würden hart und "gantz dunkel scheinen. Man müßte zuerst die "gelindesten auslesen, diejenigen, welche mit "denen, die unsre Sprache schon erlaubet, am "nächsten gränzen, und so von einer zur andern "fortgehen."
„Loͤſet dieſe Verſezung auf, und ſtellet dieſe Wor- „te in eine grammatiſche Ordnung, ſo wird alle „ihre Cadantz, ihre Pracht, ihre Anmuth und „Harmonie wegfallen. Wie furchtſam und wie „angſthaft iſt hingegen unſre Sprache? Soll- „ten wir folgenden Vers, in welchem alle Wor- „te von ihrer Stelle gehoben ſind, nachmachen „duͤrffen? „Aret ager, vitio moriens ſitit aëris herba. „Wenn Horatz ſeinen Leſer zu irgend einem vor- „nehmen Gegenſtande vorbereiten will, ſo fuͤh- „ret er ihn mit ſich fort, ohne daß er ihm ſage, „wohin er gehen wolle, und ohne daß er ihn aus- „raſten laſſe: Qualem miniſtrum fluminis alitem &c.
Der Herr Fenelon gedenket nach dieſem, wie man auch in der franzoͤſiſchen Sprache dergleichen Ver- ſezungen einfuͤhren koͤnnte:
„Jch bekenne, ſagt „er, daß man nicht auf einmahl eine groſſe Zahl „ſolcher Verſezungen anbringen muß. Man iſt „derſelben nicht gewohnet, ſie wuͤrden hart und „gantz dunkel ſcheinen. Man muͤßte zuerſt die „gelindeſten ausleſen, diejenigen, welche mit „denen, die unſre Sprache ſchon erlaubet, am „naͤchſten graͤnzen, und ſo von einer zur andern „fortgehen.„
Mit
G 3
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in Miltons verlohrnen Paradieſe.
„Et mutata ſuos requierunt flumina Curſus,
„Damonis muſam dicemus & Alpheſiboei.
„Loͤſet dieſe Verſezung auf, und ſtellet dieſe Wor-
„te in eine grammatiſche Ordnung, ſo wird alle
„ihre Cadantz, ihre Pracht, ihre Anmuth und
„Harmonie wegfallen. Wie furchtſam und wie
„angſthaft iſt hingegen unſre Sprache? Soll-
„ten wir folgenden Vers, in welchem alle Wor-
„te von ihrer Stelle gehoben ſind, nachmachen
„duͤrffen?
„Aret ager, vitio moriens ſitit aëris herba.
„Wenn Horatz ſeinen Leſer zu irgend einem vor-
„nehmen Gegenſtande vorbereiten will, ſo fuͤh-
„ret er ihn mit ſich fort, ohne daß er ihm ſage,
„wohin er gehen wolle, und ohne daß er ihn aus-
„raſten laſſe:
Qualem miniſtrum fluminis alitem &c.
Der Herr Fenelon gedenket nach dieſem, wie man
auch in der franzoͤſiſchen Sprache dergleichen Ver-
ſezungen einfuͤhren koͤnnte:
„Jch bekenne, ſagt
„er, daß man nicht auf einmahl eine groſſe Zahl
„ſolcher Verſezungen anbringen muß. Man iſt
„derſelben nicht gewohnet, ſie wuͤrden hart und
„gantz dunkel ſcheinen. Man muͤßte zuerſt die
„gelindeſten ausleſen, diejenigen, welche mit
„denen, die unſre Sprache ſchon erlaubet, am
„naͤchſten graͤnzen, und ſo von einer zur andern
„fortgehen.„
Mit
G 3
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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften. Bd. 3. Zürich, 1742, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung03_1742/103>, abgerufen am 16.02.2025.
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