Der Briefwechsel ist im Jahr 1729. geführt worden, und die critische Dicht- kunst für die Deutschen ist erst in dem darauf fol- genden Jahre an das Licht getreten. Demnach müssen die Verfasser der Briefe das dritte Capi- tel der gottschedischen Dichtkunst prophetischer Wei- se vorhergelesen haben, wenn es wahr ist, daß sie es weitläuftiger ausgeführet haben. Dieses braucht einen handfesten Glauben, welchen noch dazu die Vergleichung beyder Schriften gäntzlich zu nichten machet. Jn den Briefen des Eurisus ist es heller Tag, alles wird endlich klar und deut- lich bestimmt: Jn Hrn. Gottscheds dritten Capitel regiert lauter Verwirrung und Dunkelheit. Er sagt, der gute Geschmack sey der von der Schön- heit eines Dinges nach der blossen Empfindung urtheilende Verstand, in Sachen, davon man kein deutliches und gründliches Erkenntniß hat; der üble Geschmack hingegen sey ebenfalls der Verstand, der nach der blossen Empfindung von undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber sich in solchen seinen Urtheilen betrüget. Er versteht durch die blosse Empfindung, auf welche das Ur- theil sich gründet, die innerliche Empfindung ei- ner schönen Sache, die entweder würcklich ausser uns vorhanden ist, oder von unsrer eigenen Phantasie hervorgebracht worden. Allein dieser letzte- re Verstand, der von undeutlich erkannten Sachen urtheilt und sich betrügt, wird mit besserm Recht Unverstand genannt. Der erstere, der von de- nen Sachen urtheilet, von welchen er kein gründli- ches und deutliches Erkenntniß hat, ist nicht viel
besser,
der Critik bey den Deutſchen.
„behauptet hat.„
Der Briefwechſel iſt im Jahr 1729. gefuͤhrt worden, und die critiſche Dicht- kunſt fuͤr die Deutſchen iſt erſt in dem darauf fol- genden Jahre an das Licht getreten. Demnach muͤſſen die Verfaſſer der Briefe das dritte Capi- tel der gottſchediſchen Dichtkunſt prophetiſcher Wei- ſe vorhergeleſen haben, wenn es wahr iſt, daß ſie es weitlaͤuftiger ausgefuͤhret haben. Dieſes braucht einen handfeſten Glauben, welchen noch dazu die Vergleichung beyder Schriften gaͤntzlich zu nichten machet. Jn den Briefen des Euriſus iſt es heller Tag, alles wird endlich klar und deut- lich beſtimmt: Jn Hrn. Gottſcheds dritten Capitel regiert lauter Verwirrung und Dunkelheit. Er ſagt, der gute Geſchmack ſey der von der Schoͤn- heit eines Dinges nach der bloſſen Empfindung urtheilende Verſtand, in Sachen, davon man kein deutliches und gruͤndliches Erkenntniß hat; der uͤble Geſchmack hingegen ſey ebenfalls der Verſtand, der nach der bloſſen Empfindung von undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber ſich in ſolchen ſeinen Urtheilen betruͤget. Er verſteht durch die bloſſe Empfindung, auf welche das Ur- theil ſich gruͤndet, die innerliche Empfindung ei- ner ſchoͤnen Sache, die entweder wuͤrcklich auſſer uns vorhanden iſt, oder von unſrer eigenen Phantaſie hervorgebracht worden. Allein dieſer letzte- re Verſtand, der von undeutlich erkannten Sachen urtheilt und ſich betruͤgt, wird mit beſſerm Recht Unverſtand genannt. Der erſtere, der von de- nen Sachen urtheilet, von welchen er kein gruͤndli- ches und deutliches Erkenntniß hat, iſt nicht viel
beſſer,
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der Critik bey den Deutſchen.
„behauptet hat.„
Der Briefwechſel iſt im
Jahr 1729. gefuͤhrt worden, und die critiſche Dicht-
kunſt fuͤr die Deutſchen iſt erſt in dem darauf fol-
genden Jahre an das Licht getreten. Demnach
muͤſſen die Verfaſſer der Briefe das dritte Capi-
tel der gottſchediſchen Dichtkunſt prophetiſcher Wei-
ſe vorhergeleſen haben, wenn es wahr iſt, daß
ſie es weitlaͤuftiger ausgefuͤhret haben. Dieſes
braucht einen handfeſten Glauben, welchen noch
dazu die Vergleichung beyder Schriften gaͤntzlich
zu nichten machet. Jn den Briefen des Euriſus
iſt es heller Tag, alles wird endlich klar und deut-
lich beſtimmt: Jn Hrn. Gottſcheds dritten Capitel
regiert lauter Verwirrung und Dunkelheit. Er
ſagt, der gute Geſchmack ſey der von der Schoͤn-
heit eines Dinges nach der bloſſen Empfindung
urtheilende Verſtand, in Sachen, davon man
kein deutliches und gruͤndliches Erkenntniß hat;
der uͤble Geſchmack hingegen ſey ebenfalls der
Verſtand, der nach der bloſſen Empfindung von
undeutlich erkannten Sachen urtheilet; aber ſich
in ſolchen ſeinen Urtheilen betruͤget. Er verſteht
durch die bloſſe Empfindung, auf welche das Ur-
theil ſich gruͤndet, die innerliche Empfindung ei-
ner ſchoͤnen Sache, die entweder wuͤrcklich auſſer
uns vorhanden iſt, oder von unſrer eigenen
Phantaſie hervorgebracht worden. Allein dieſer letzte-
re Verſtand, der von undeutlich erkannten Sachen
urtheilt und ſich betruͤgt, wird mit beſſerm Recht
Unverſtand genannt. Der erſtere, der von de-
nen Sachen urtheilet, von welchen er kein gruͤndli-
ches und deutliches Erkenntniß hat, iſt nicht viel
beſſer,
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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/175>, abgerufen am 16.02.2025.
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