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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741.

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Nachrichten von dem Ursprunge
"sien wegen der Dichtkunst schuldig ist; derselben
"Ursprung, Fortgang, so gar, alle Poeten,
"die sich bishero unter uns einen Nahmen ge-
"machet haben. Es fehlet aber so weit, daß sie
"unsre Poesie annoch in den Stand sollten gese-
"zet haben, worinnen wir, ich will nicht sagen
"der Griechen und Lateiner, sondern nur der heu-
"tigen Franzosen und Engelländer ihre finden,
"daß sie vielmehr uns zu vielen Fehlern verführt,
"und dieselben durch ihre wohlfliessende und zahl-
"reiche Verse so gar unter uns gangbar gemacht
"haben, daß man sich sogleich einen gantzen
"Schwarm deutscher Dichterlinge auf den Hals
"ladet, so bald man Liebe genug zu seinem Va-
"terlande trägt, dieselben als Fehler anzumer-
"ken. Die Rede nach der unterschiedenen Art
"der Gedichte unterschiedlich einzurichten; in ei-
"nem Schäfergedichte sittsam zu sinken, ohne zu
"fallen, in einer Ode hergegen zwar hoch aber
"nicht aus dem Gesichte zu steigen, und in die-
"ser unterweilen eine künstliche Unordnung sehen
"zu lassen; in den Schauspielen die Einigkeit der
"Zeit, des Orts, und der Sache gantz genau
"zu beobachten, und zwar in den Lustspielen die
"Sitten zu verbessern, und in den Trauerspielen
"die Hörer zum Schrecken und zum Mitleiden
"zu bewegen; in allen aber insgemein voller sinn-
"reichen Gedancken und Einfälle, und großmü-
"thigen und schönen Meinungen zu seyn, so daß
"dieselben nach Lesung des Gedichtes in dem Ge-
"dächtniß stecken bleiben; dieses alles ist das,
"worauf die wenigste unsrer Poeten bishero ge-
"dacht,
Nachrichten von dem Urſprunge
„ſien wegen der Dichtkunſt ſchuldig iſt; derſelben
„Urſprung, Fortgang, ſo gar, alle Poeten,
„die ſich bishero unter uns einen Nahmen ge-
„machet haben. Es fehlet aber ſo weit, daß ſie
„unſre Poeſie annoch in den Stand ſollten geſe-
„zet haben, worinnen wir, ich will nicht ſagen
„der Griechen und Lateiner, ſondern nur der heu-
„tigen Franzoſen und Engellaͤnder ihre finden,
„daß ſie vielmehr uns zu vielen Fehlern verfuͤhrt,
„und dieſelben durch ihre wohlflieſſende und zahl-
„reiche Verſe ſo gar unter uns gangbar gemacht
„haben, daß man ſich ſogleich einen gantzen
„Schwarm deutſcher Dichterlinge auf den Hals
„ladet, ſo bald man Liebe genug zu ſeinem Va-
„terlande traͤgt, dieſelben als Fehler anzumer-
„ken. Die Rede nach der unterſchiedenen Art
„der Gedichte unterſchiedlich einzurichten; in ei-
„nem Schaͤfergedichte ſittſam zu ſinken, ohne zu
„fallen, in einer Ode hergegen zwar hoch aber
„nicht aus dem Geſichte zu ſteigen, und in die-
„ſer unterweilen eine kuͤnſtliche Unordnung ſehen
„zu laſſen; in den Schauſpielen die Einigkeit der
„Zeit, des Orts, und der Sache gantz genau
„zu beobachten, und zwar in den Luſtſpielen die
„Sitten zu verbeſſern, und in den Trauerſpielen
„die Hoͤrer zum Schrecken und zum Mitleiden
„zu bewegen; in allen aber insgemein voller ſinn-
„reichen Gedancken und Einfaͤlle, und großmuͤ-
„thigen und ſchoͤnen Meinungen zu ſeyn, ſo daß
„dieſelben nach Leſung des Gedichtes in dem Ge-
„daͤchtniß ſtecken bleiben; dieſes alles iſt das,
„worauf die wenigſte unſrer Poeten bishero ge-
„dacht,
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[108/0110] Nachrichten von dem Urſprunge „ſien wegen der Dichtkunſt ſchuldig iſt; derſelben „Urſprung, Fortgang, ſo gar, alle Poeten, „die ſich bishero unter uns einen Nahmen ge- „machet haben. Es fehlet aber ſo weit, daß ſie „unſre Poeſie annoch in den Stand ſollten geſe- „zet haben, worinnen wir, ich will nicht ſagen „der Griechen und Lateiner, ſondern nur der heu- „tigen Franzoſen und Engellaͤnder ihre finden, „daß ſie vielmehr uns zu vielen Fehlern verfuͤhrt, „und dieſelben durch ihre wohlflieſſende und zahl- „reiche Verſe ſo gar unter uns gangbar gemacht „haben, daß man ſich ſogleich einen gantzen „Schwarm deutſcher Dichterlinge auf den Hals „ladet, ſo bald man Liebe genug zu ſeinem Va- „terlande traͤgt, dieſelben als Fehler anzumer- „ken. Die Rede nach der unterſchiedenen Art „der Gedichte unterſchiedlich einzurichten; in ei- „nem Schaͤfergedichte ſittſam zu ſinken, ohne zu „fallen, in einer Ode hergegen zwar hoch aber „nicht aus dem Geſichte zu ſteigen, und in die- „ſer unterweilen eine kuͤnſtliche Unordnung ſehen „zu laſſen; in den Schauſpielen die Einigkeit der „Zeit, des Orts, und der Sache gantz genau „zu beobachten, und zwar in den Luſtſpielen die „Sitten zu verbeſſern, und in den Trauerſpielen „die Hoͤrer zum Schrecken und zum Mitleiden „zu bewegen; in allen aber insgemein voller ſinn- „reichen Gedancken und Einfaͤlle, und großmuͤ- „thigen und ſchoͤnen Meinungen zu ſeyn, ſo daß „dieſelben nach Leſung des Gedichtes in dem Ge- „daͤchtniß ſtecken bleiben; dieſes alles iſt das, „worauf die wenigſte unſrer Poeten bishero ge- „dacht,

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 2. Zürich, 1741, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung02_1741/110>, abgerufen am 24.11.2024.