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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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eines Kunstrichters.
band sich mit der Tyranney, und brachte die
Seelen, wie diese die Leiber, in die Knechtschaft.
Man glaubte viel, aber verstund wenig. Und
dumm seyn mußte, nach der damahligen Ausle-
gung, fromm seyn heissen. Dergestalten über-
schwemmete eine zweyte Sündfluth die Wissen-
schaften, und die Münche vollendeten, was die
Gothen angefangen hatten.

Zulezt kam Erasmus; ein grosser so oft ange-
griffener Nahme; der Priesterschaft Ruhm und
Beschämung! Der stemmte die wilde Fluth der
Barbarey und trieb die heiligen Vandalen von
der Schaubühne.

Aber siehe! wie in Leons güldenen Tagen jede Muse
von ihrer Ohnmacht erwacht, und ihren verwelckten Lor-
beerkranz wieder aufpuzt. Der Geist des alten Roms
über dessen Schutt ausgestrekt schüttelte den Raub von
sich und hub sein ehrenvolles Haupt empor. Dann er-
munterten sich die Bildhauerey und ihre verschwisterte
Künste von ihrem Schlafe. Steine eilten zur Form und
Felsen begunnten zu leben. Jeder neuaufstehende Tem-
pel erschall mit angenehmern Thönen. Ein Raphael mal-
te, und ein Vida sang. Unsterblicher Vida, (p) um
dessen würdige Scheitel sich die Lorbeere der Dichtkunst
mit der Critik Epheu vereinigen. Cremona soll ewig mit
deinem Nahmen prangen und Mantuen am Ruhme wie
in der Lage am nächsten seyn.

Aber bald wurden die Musen durch den Greuel der Wafen
aufs neue aus Latien vertrieben, und verliessen ihre al-
ten Gränzen. Denn verbreiteten sich die Künste durch die
ganze Norderwelt. Doch florierten die critischen Wissen-

schaften
(p) M. Hieronymus Vida von Cremona ein vortreff-
licher lateinischer Poet, der eine Dichtkunst in Versen ge-
schrieben. Er lebte zu den Zeiten Pabst Leons des zehnten.
F 2

eines Kunſtrichters.
band ſich mit der Tyranney, und brachte die
Seelen, wie dieſe die Leiber, in die Knechtſchaft.
Man glaubte viel, aber verſtund wenig. Und
dumm ſeyn mußte, nach der damahligen Ausle-
gung, fromm ſeyn heiſſen. Dergeſtalten uͤber-
ſchwemmete eine zweyte Suͤndfluth die Wiſſen-
ſchaften, und die Muͤnche vollendeten, was die
Gothen angefangen hatten.

Zulezt kam Eraſmus; ein groſſer ſo oft ange-
griffener Nahme; der Prieſterſchaft Ruhm und
Beſchaͤmung! Der ſtemmte die wilde Fluth der
Barbarey und trieb die heiligen Vandalen von
der Schaubuͤhne.

Aber ſiehe! wie in Leons guͤldenen Tagen jede Muſe
von ihrer Ohnmacht erwacht, und ihren verwelckten Lor-
beerkranz wieder aufpuzt. Der Geiſt des alten Roms
uͤber deſſen Schutt ausgeſtrekt ſchuͤttelte den Raub von
ſich und hub ſein ehrenvolles Haupt empor. Dann er-
munterten ſich die Bildhauerey und ihre verſchwiſterte
Kuͤnſte von ihrem Schlafe. Steine eilten zur Form und
Felſen begunnten zu leben. Jeder neuaufſtehende Tem-
pel erſchall mit angenehmern Thoͤnen. Ein Raphael mal-
te, und ein Vida ſang. Unſterblicher Vida, (p) um
deſſen wuͤrdige Scheitel ſich die Lorbeere der Dichtkunſt
mit der Critik Epheu vereinigen. Cremona ſoll ewig mit
deinem Nahmen prangen und Mantuen am Ruhme wie
in der Lage am naͤchſten ſeyn.

Aber bald wurden die Muſen durch den Greuel der Wafen
aufs neue aus Latien vertrieben, und verlieſſen ihre al-
ten Graͤnzen. Denn verbreiteten ſich die Kuͤnſte durch die
ganze Norderwelt. Doch florierten die critiſchen Wiſſen-

ſchaften
(p) M. Hieronymus Vida von Cremona ein vortreff-
licher lateiniſcher Poet, der eine Dichtkunſt in Verſen ge-
ſchrieben. Er lebte zu den Zeiten Pabſt Leons des zehnten.
F 2
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[83/0099] eines Kunſtrichters. band ſich mit der Tyranney, und brachte die Seelen, wie dieſe die Leiber, in die Knechtſchaft. Man glaubte viel, aber verſtund wenig. Und dumm ſeyn mußte, nach der damahligen Ausle- gung, fromm ſeyn heiſſen. Dergeſtalten uͤber- ſchwemmete eine zweyte Suͤndfluth die Wiſſen- ſchaften, und die Muͤnche vollendeten, was die Gothen angefangen hatten. Zulezt kam Eraſmus; ein groſſer ſo oft ange- griffener Nahme; der Prieſterſchaft Ruhm und Beſchaͤmung! Der ſtemmte die wilde Fluth der Barbarey und trieb die heiligen Vandalen von der Schaubuͤhne. Aber ſiehe! wie in Leons guͤldenen Tagen jede Muſe von ihrer Ohnmacht erwacht, und ihren verwelckten Lor- beerkranz wieder aufpuzt. Der Geiſt des alten Roms uͤber deſſen Schutt ausgeſtrekt ſchuͤttelte den Raub von ſich und hub ſein ehrenvolles Haupt empor. Dann er- munterten ſich die Bildhauerey und ihre verſchwiſterte Kuͤnſte von ihrem Schlafe. Steine eilten zur Form und Felſen begunnten zu leben. Jeder neuaufſtehende Tem- pel erſchall mit angenehmern Thoͤnen. Ein Raphael mal- te, und ein Vida ſang. Unſterblicher Vida, (p) um deſſen wuͤrdige Scheitel ſich die Lorbeere der Dichtkunſt mit der Critik Epheu vereinigen. Cremona ſoll ewig mit deinem Nahmen prangen und Mantuen am Ruhme wie in der Lage am naͤchſten ſeyn. Aber bald wurden die Muſen durch den Greuel der Wafen aufs neue aus Latien vertrieben, und verlieſſen ihre al- ten Graͤnzen. Denn verbreiteten ſich die Kuͤnſte durch die ganze Norderwelt. Doch florierten die critiſchen Wiſſen- ſchaften (p) M. Hieronymus Vida von Cremona ein vortreff- licher lateiniſcher Poet, der eine Dichtkunſt in Verſen ge- ſchrieben. Er lebte zu den Zeiten Pabſt Leons des zehnten. F 2

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/99>, abgerufen am 24.11.2024.