[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.eines Kunstrichters. mit Gewalt übel verstehen wollen, um böses inihm zu finden. Einem angesteckten scheint alles angesteckt, wie einem gelbsüchtigen Auge alles gelb vorkömmt. Lernet derohalben auch die moralischen Tugen- Schweigetallezeit, wenn ihr noch an eurer Ein- Doch ist es auch nicht genug, einen guten Rath Seyd
eines Kunſtrichters. mit Gewalt uͤbel verſtehen wollen, um boͤſes inihm zu finden. Einem angeſteckten ſcheint alles angeſteckt, wie einem gelbſuͤchtigen Auge alles gelb vorkoͤmmt. Lernet derohalben auch die moraliſchen Tugen- Schweigetallezeit, wenn ihr noch an eurer Ein- Doch iſt es auch nicht genug, einen guten Rath Seyd
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0093" n="77"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">eines Kunſtrichters.</hi></fw><lb/> mit Gewalt uͤbel verſtehen wollen, um boͤſes in<lb/> ihm zu finden. Einem angeſteckten ſcheint alles<lb/> angeſteckt, wie einem gelbſuͤchtigen Auge alles<lb/> gelb vorkoͤmmt.</p><lb/> <p>Lernet derohalben auch die moraliſchen Tugen-<lb/> den eines Critici, denn die bloſſe Wiſſenſchaft iſt<lb/> nur die Helfte der Pflichten eines Richters. Es<lb/> iſt nicht genug an Witz, Kunſt und Gelehrtheit:<lb/> Es muͤſſen auch Wahrheit und Redlichkeit aus<lb/> allem, was wir reden, hervorbliken, damit jeder-<lb/> mann bewogen werde, nicht nur unſer Urtheil zu<lb/> ſchaͤzen, ſondern auch unſre Freundſchaft zu ſuchen.</p><lb/> <p>Schweigetallezeit, wenn ihr noch an eurer Ein-<lb/> ſicht zweifelt, und ſeyd ihr wirklich gewiß, ſo<lb/> ſprecht doch als ob ihr euch nicht genug trauetet.<lb/> Es giebt Thoren, die in ihren unvernuͤnftigen<lb/> Machtſpruͤchen ſo halsſtarrig ſind, daß ſie mit<lb/> Gewalt fort irren wollen, wenn ſie einmal geir-<lb/> ret haben. Aber erkennet ihr eure vergangene<lb/> Fehler mit Freuden, und ſtellet jeden Tag eine<lb/> Critik uͤber den vorigen an.</p><lb/> <p>Doch iſt es auch nicht genug, einen guten Rath<lb/> ſchlechthin zu ertheilen. Eine plumpe Wahrheit<lb/> ſtiftet mehr uͤbels als eine kuͤnſtliche Unwahrheit.<lb/> Man muß die Menſchen lehren, als ob man ſie<lb/> nicht lehrte, und Dinge, die ſie nie gewußt, ih-<lb/> nen vorbringen, als ob ſie ſie nur vergeſſen haͤt-<lb/> ten. Die Wahrheit findet keinen Eingang, wenn<lb/> die Hoͤflichkeit ſie nicht begleitet. Nur dieſes kan<lb/> den Vorzug unſrer Vernunft einem andern be-<lb/> liebt machen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Seyd</fw><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [77/0093]
eines Kunſtrichters.
mit Gewalt uͤbel verſtehen wollen, um boͤſes in
ihm zu finden. Einem angeſteckten ſcheint alles
angeſteckt, wie einem gelbſuͤchtigen Auge alles
gelb vorkoͤmmt.
Lernet derohalben auch die moraliſchen Tugen-
den eines Critici, denn die bloſſe Wiſſenſchaft iſt
nur die Helfte der Pflichten eines Richters. Es
iſt nicht genug an Witz, Kunſt und Gelehrtheit:
Es muͤſſen auch Wahrheit und Redlichkeit aus
allem, was wir reden, hervorbliken, damit jeder-
mann bewogen werde, nicht nur unſer Urtheil zu
ſchaͤzen, ſondern auch unſre Freundſchaft zu ſuchen.
Schweigetallezeit, wenn ihr noch an eurer Ein-
ſicht zweifelt, und ſeyd ihr wirklich gewiß, ſo
ſprecht doch als ob ihr euch nicht genug trauetet.
Es giebt Thoren, die in ihren unvernuͤnftigen
Machtſpruͤchen ſo halsſtarrig ſind, daß ſie mit
Gewalt fort irren wollen, wenn ſie einmal geir-
ret haben. Aber erkennet ihr eure vergangene
Fehler mit Freuden, und ſtellet jeden Tag eine
Critik uͤber den vorigen an.
Doch iſt es auch nicht genug, einen guten Rath
ſchlechthin zu ertheilen. Eine plumpe Wahrheit
ſtiftet mehr uͤbels als eine kuͤnſtliche Unwahrheit.
Man muß die Menſchen lehren, als ob man ſie
nicht lehrte, und Dinge, die ſie nie gewußt, ih-
nen vorbringen, als ob ſie ſie nur vergeſſen haͤt-
ten. Die Wahrheit findet keinen Eingang, wenn
die Hoͤflichkeit ſie nicht begleitet. Nur dieſes kan
den Vorzug unſrer Vernunft einem andern be-
liebt machen.
Seyd
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |