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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Versuch von den Eigenschaften

Man sagt, daß einsten der Ritter von Man-
cha einen Dichter auf dem Wege angetroffen und
sich mit ihm über die Grundregeln der Schaubüh-
ne unterhalten habe, mit eben so vernünftigen Bli-
ken und geschickten Ausdrückungen, als immer
Dennis thun können. Sein Schluß war, daß
alle toll und wahnsinnig seyen, die sich hierinnen
von des Aristoteles Vorschrift entfernen. Der
Autor über einen so geschickten Richter erfreuet,
zog eine Tragödie hervor und bat den Ritter um
seine Meinung. Er erklärte ihm den Jnhalt der
Handlung, ihre Verwicklung, die Sitten und
die Leidenschaften der Personen, die Einheit und
was nicht mehr. Alles, erinnerte er, wäre ge-
nau nach den Regeln abgepaßt, wann nur ein
Ritterkampf daraus geblieben wäre. Was,
schrie der Ritter, den Kampf auslassen! Ja,
oder wir müssen dem Stagyriten absagen. Nein
beym Himmel! Antwortete jener halb rasend.
Ritter, Schildträger und Pferde müssen alle auf
der Bühne erscheinen. Aber die Bühne faßt kein
so grosses Gedränge. So baut eine neue, oder
spielt das Stuck auf einem offenen Plaze.

So macht es ein Kunstrichter, der mehr Für-
witz als Kenntniß besizet, der stärcker an Eigen-
sinn als Urtheilskraft, und mehr seltsam als ge-
nau im Geschmacke ist. Er hat gar zu enge Be-
griffe, und begehet aus Parteyliebe in Wissen-
schaften Fehler, wie viele in den Sitten.

Einige haben an nichts keinen Geschmack, als
an spielenden Gedancken. Jede Zeile muß ihnen von
Flittergolde schimmern. Woran sie sich ergözen,

das
Verſuch von den Eigenſchaften

Man ſagt, daß einſten der Ritter von Man-
cha einen Dichter auf dem Wege angetroffen und
ſich mit ihm uͤber die Grundregeln der Schaubuͤh-
ne unterhalten habe, mit eben ſo vernuͤnftigen Bli-
ken und geſchickten Ausdruͤckungen, als immer
Dennis thun koͤnnen. Sein Schluß war, daß
alle toll und wahnſinnig ſeyen, die ſich hierinnen
von des Ariſtoteles Vorſchrift entfernen. Der
Autor uͤber einen ſo geſchickten Richter erfreuet,
zog eine Tragoͤdie hervor und bat den Ritter um
ſeine Meinung. Er erklaͤrte ihm den Jnhalt der
Handlung, ihre Verwicklung, die Sitten und
die Leidenſchaften der Perſonen, die Einheit und
was nicht mehr. Alles, erinnerte er, waͤre ge-
nau nach den Regeln abgepaßt, wann nur ein
Ritterkampf daraus geblieben waͤre. Was,
ſchrie der Ritter, den Kampf auslaſſen! Ja,
oder wir muͤſſen dem Stagyriten abſagen. Nein
beym Himmel! Antwortete jener halb raſend.
Ritter, Schildtraͤger und Pferde muͤſſen alle auf
der Buͤhne erſcheinen. Aber die Buͤhne faßt kein
ſo groſſes Gedraͤnge. So baut eine neue, oder
ſpielt das Stuck auf einem offenen Plaze.

So macht es ein Kunſtrichter, der mehr Fuͤr-
witz als Kenntniß beſizet, der ſtaͤrcker an Eigen-
ſinn als Urtheilskraft, und mehr ſeltſam als ge-
nau im Geſchmacke iſt. Er hat gar zu enge Be-
griffe, und begehet aus Parteyliebe in Wiſſen-
ſchaften Fehler, wie viele in den Sitten.

Einige haben an nichts keinen Geſchmack, als
an ſpielenden Gedancken. Jede Zeile muß ihnen von
Flittergolde ſchimmern. Woran ſie ſich ergoͤzen,

das
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[64/0080] Verſuch von den Eigenſchaften Man ſagt, daß einſten der Ritter von Man- cha einen Dichter auf dem Wege angetroffen und ſich mit ihm uͤber die Grundregeln der Schaubuͤh- ne unterhalten habe, mit eben ſo vernuͤnftigen Bli- ken und geſchickten Ausdruͤckungen, als immer Dennis thun koͤnnen. Sein Schluß war, daß alle toll und wahnſinnig ſeyen, die ſich hierinnen von des Ariſtoteles Vorſchrift entfernen. Der Autor uͤber einen ſo geſchickten Richter erfreuet, zog eine Tragoͤdie hervor und bat den Ritter um ſeine Meinung. Er erklaͤrte ihm den Jnhalt der Handlung, ihre Verwicklung, die Sitten und die Leidenſchaften der Perſonen, die Einheit und was nicht mehr. Alles, erinnerte er, waͤre ge- nau nach den Regeln abgepaßt, wann nur ein Ritterkampf daraus geblieben waͤre. Was, ſchrie der Ritter, den Kampf auslaſſen! Ja, oder wir muͤſſen dem Stagyriten abſagen. Nein beym Himmel! Antwortete jener halb raſend. Ritter, Schildtraͤger und Pferde muͤſſen alle auf der Buͤhne erſcheinen. Aber die Buͤhne faßt kein ſo groſſes Gedraͤnge. So baut eine neue, oder ſpielt das Stuck auf einem offenen Plaze. So macht es ein Kunſtrichter, der mehr Fuͤr- witz als Kenntniß beſizet, der ſtaͤrcker an Eigen- ſinn als Urtheilskraft, und mehr ſeltſam als ge- nau im Geſchmacke iſt. Er hat gar zu enge Be- griffe, und begehet aus Parteyliebe in Wiſſen- ſchaften Fehler, wie viele in den Sitten. Einige haben an nichts keinen Geſchmack, als an ſpielenden Gedancken. Jede Zeile muß ihnen von Flittergolde ſchimmern. Woran ſie ſich ergoͤzen, das

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/80>, abgerufen am 22.11.2024.