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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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eines Kunstrichters.
Schönheit nennen, ist nicht der Mund oder ein
Auge, sondern die vereinte Kraft, der volle Jn-
halt von allen. So wenn wir einen prächtigen
Dom, der Welt, ja selbsten Roms gerechtes
Wunder erblicken, so pflegen uns nicht seine be-
sondere Stücke mit Unterschied zu rühren, alle zu-
sammen ziehen unsere Blicke zugleich auf sich.
Da sehen wir keine ungeformte Höhen, noch Län-
gen, noch Breiten. Das Ganze ist zugleich stoltz
und regelmässig.

Wer immer ein Werck ohne Fehler zu sehen
gedencket, der gedencket etwas, das nie gewe-
sen, nicht ist, und niemals seyn wird. Jn je-
dem Wercke muß man auf den Zweck des Ver-
fassers sehen, den niemand über dessen eigene Ab-
sicht erstrecken kan. Und wenn er sich bequemer
Mittel und einer richtigen Ausführung bedient
hat, so sind wir ihm Beyfall schuldig, zu troze
der geringen Mängel, die darinnen erscheinen
möchten; denn, wie ein wohlgesitteter Mann
im Umgange, so muß ein Scribent im Schreiben
oft kleine Fehler begehen, um grössere zn vermei-
den. Verachtet die Regeln, die ein jeder Wort-
grübler stellt. Es ist euch eine Ehre, dergleichen
Kleinigkeiten nicht zu wissen. Mancher Critischer
Unterbedienter hat sich dergestalt in sein Aemt-
gen verliebt, daß er den Stat darnach meistern,
und das Ganze immer von einem Theile abhängig
machen will. Sie sprechen von Grundsätzen, und
rühmen nichts als richtige Begriffe, opfern sie
aber alle einer einigen Thorheit auf, in die sie sich
verliebet haben.

Man

eines Kunſtrichters.
Schoͤnheit nennen, iſt nicht der Mund oder ein
Auge, ſondern die vereinte Kraft, der volle Jn-
halt von allen. So wenn wir einen praͤchtigen
Dom, der Welt, ja ſelbſten Roms gerechtes
Wunder erblicken, ſo pflegen uns nicht ſeine be-
ſondere Stuͤcke mit Unterſchied zu ruͤhren, alle zu-
ſammen ziehen unſere Blicke zugleich auf ſich.
Da ſehen wir keine ungeformte Hoͤhen, noch Laͤn-
gen, noch Breiten. Das Ganze iſt zugleich ſtoltz
und regelmaͤſſig.

Wer immer ein Werck ohne Fehler zu ſehen
gedencket, der gedencket etwas, das nie gewe-
ſen, nicht iſt, und niemals ſeyn wird. Jn je-
dem Wercke muß man auf den Zweck des Ver-
faſſers ſehen, den niemand uͤber deſſen eigene Ab-
ſicht erſtrecken kan. Und wenn er ſich bequemer
Mittel und einer richtigen Ausfuͤhrung bedient
hat, ſo ſind wir ihm Beyfall ſchuldig, zu troze
der geringen Maͤngel, die darinnen erſcheinen
moͤchten; denn, wie ein wohlgeſitteter Mann
im Umgange, ſo muß ein Scribent im Schreiben
oft kleine Fehler begehen, um groͤſſere zn vermei-
den. Verachtet die Regeln, die ein jeder Wort-
gruͤbler ſtellt. Es iſt euch eine Ehre, dergleichen
Kleinigkeiten nicht zu wiſſen. Mancher Critiſcher
Unterbedienter hat ſich dergeſtalt in ſein Aemt-
gen verliebt, daß er den Stat darnach meiſtern,
und das Ganze immer von einem Theile abhaͤngig
machen will. Sie ſprechen von Grundſaͤtzen, und
ruͤhmen nichts als richtige Begriffe, opfern ſie
aber alle einer einigen Thorheit auf, in die ſie ſich
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[63/0079] eines Kunſtrichters. Schoͤnheit nennen, iſt nicht der Mund oder ein Auge, ſondern die vereinte Kraft, der volle Jn- halt von allen. So wenn wir einen praͤchtigen Dom, der Welt, ja ſelbſten Roms gerechtes Wunder erblicken, ſo pflegen uns nicht ſeine be- ſondere Stuͤcke mit Unterſchied zu ruͤhren, alle zu- ſammen ziehen unſere Blicke zugleich auf ſich. Da ſehen wir keine ungeformte Hoͤhen, noch Laͤn- gen, noch Breiten. Das Ganze iſt zugleich ſtoltz und regelmaͤſſig. Wer immer ein Werck ohne Fehler zu ſehen gedencket, der gedencket etwas, das nie gewe- ſen, nicht iſt, und niemals ſeyn wird. Jn je- dem Wercke muß man auf den Zweck des Ver- faſſers ſehen, den niemand uͤber deſſen eigene Ab- ſicht erſtrecken kan. Und wenn er ſich bequemer Mittel und einer richtigen Ausfuͤhrung bedient hat, ſo ſind wir ihm Beyfall ſchuldig, zu troze der geringen Maͤngel, die darinnen erſcheinen moͤchten; denn, wie ein wohlgeſitteter Mann im Umgange, ſo muß ein Scribent im Schreiben oft kleine Fehler begehen, um groͤſſere zn vermei- den. Verachtet die Regeln, die ein jeder Wort- gruͤbler ſtellt. Es iſt euch eine Ehre, dergleichen Kleinigkeiten nicht zu wiſſen. Mancher Critiſcher Unterbedienter hat ſich dergeſtalt in ſein Aemt- gen verliebt, daß er den Stat darnach meiſtern, und das Ganze immer von einem Theile abhaͤngig machen will. Sie ſprechen von Grundſaͤtzen, und ruͤhmen nichts als richtige Begriffe, opfern ſie aber alle einer einigen Thorheit auf, in die ſie ſich verliebet haben. Man

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/79>, abgerufen am 22.11.2024.