Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

Bild:
<< vorherige Seite

Versuch von den Eigenschaften
die aufgethürmten Alpen zu besteigen. Wir lassen
Thäler unter uns, und meinen den Himmel schon
unter den Füssen zu haben. Es deucht uns, wir
haben ihren ewigen Schnee bereits überstiegen,
und die ersten Wolcken und Gebürge scheinen uns
die letzten. Aber wenn wir diese erreichet haben,
wie erschreckt uns nicht der starcke Anwachs un-
serer Arbeit auf Wegen, die sich immer verlängern.
Eine neue Ferne ermüdet unser wanderndes Auge.
Hügel blicken über Hügel heraus und Alpen erhe-
ben sich über Alpen.

Ein vollkommener Richter lieset jedes Werck
mit eben dem Geiste, (f) worinnen es der
Verfasser geschrieben hat. Er übersiehet das gan-
ze und mühet sich nicht einen geringen Fehler in
solchen Stellen zu finden, wo starcke Triebe uns
bewegen und die Entzückung uns anfeuert. Er
mag um dieses bosheitsvollen schlechten Kützels
willen sich nicht des edlen Vergnügens berauben,
an Geist und Vernunft sich zu ergötzen. Aber in
einem Liede, worinnen weder Ebbe noch Fluth,
worinnen eine regelmässige Kälte, eine gelehrte
Kraftlosigkeit herrschet, welches um nicht zu feh-
len bey einerley ruhigem Tone verbleibet, finden
wir wohl nichts zu tadeln. Aber wir möchten
darüber schlafen. Jn geistreichen Schriften,
wie in der Natur, ist das, was uns rühret, nicht
die genaue Richtigkeit einzeler Theile. Was wir

Schön-
(f) Diligenter legendum est, ac poene ad scribendi
solicitudinem. Nec per partes modo scrutanda sunt o-
mnia, sed perlectus liber utique ex integro resumendus.
Quintil.

Verſuch von den Eigenſchaften
die aufgethuͤrmten Alpen zu beſteigen. Wir laſſen
Thaͤler unter uns, und meinen den Himmel ſchon
unter den Fuͤſſen zu haben. Es deucht uns, wir
haben ihren ewigen Schnee bereits uͤberſtiegen,
und die erſten Wolcken und Gebuͤrge ſcheinen uns
die letzten. Aber wenn wir dieſe erreichet haben,
wie erſchreckt uns nicht der ſtarcke Anwachs un-
ſerer Arbeit auf Wegen, die ſich immer verlaͤngern.
Eine neue Ferne ermuͤdet unſer wanderndes Auge.
Huͤgel blicken uͤber Huͤgel heraus und Alpen erhe-
ben ſich uͤber Alpen.

Ein vollkommener Richter lieſet jedes Werck
mit eben dem Geiſte, (f) worinnen es der
Verfaſſer geſchrieben hat. Er uͤberſiehet das gan-
ze und muͤhet ſich nicht einen geringen Fehler in
ſolchen Stellen zu finden, wo ſtarcke Triebe uns
bewegen und die Entzuͤckung uns anfeuert. Er
mag um dieſes bosheitsvollen ſchlechten Kuͤtzels
willen ſich nicht des edlen Vergnuͤgens berauben,
an Geiſt und Vernunft ſich zu ergoͤtzen. Aber in
einem Liede, worinnen weder Ebbe noch Fluth,
worinnen eine regelmaͤſſige Kaͤlte, eine gelehrte
Kraftloſigkeit herrſchet, welches um nicht zu feh-
len bey einerley ruhigem Tone verbleibet, finden
wir wohl nichts zu tadeln. Aber wir moͤchten
daruͤber ſchlafen. Jn geiſtreichen Schriften,
wie in der Natur, iſt das, was uns ruͤhret, nicht
die genaue Richtigkeit einzeler Theile. Was wir

Schoͤn-
(f) Diligenter legendum est, ac pœne ad ſcribendi
ſolicitudinem. Nec per partes modo ſcrutanda ſunt o-
mnia, ſed perlectus liber utique ex integro reſumendus.
Quintil.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0078" n="62"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Ver&#x017F;uch von den Eigen&#x017F;chaften</hi></fw><lb/>
die aufgethu&#x0364;rmten Alpen zu be&#x017F;teigen. Wir la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Tha&#x0364;ler unter uns, und meinen den Himmel &#x017F;chon<lb/>
unter den Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en zu haben. Es deucht uns, wir<lb/>
haben ihren ewigen Schnee bereits u&#x0364;ber&#x017F;tiegen,<lb/>
und die er&#x017F;ten Wolcken und Gebu&#x0364;rge &#x017F;cheinen uns<lb/>
die letzten. Aber wenn wir die&#x017F;e erreichet haben,<lb/>
wie er&#x017F;chreckt uns nicht der &#x017F;tarcke Anwachs un-<lb/>
&#x017F;erer Arbeit auf Wegen, die &#x017F;ich immer verla&#x0364;ngern.<lb/>
Eine neue Ferne ermu&#x0364;det un&#x017F;er wanderndes Auge.<lb/>
Hu&#x0364;gel blicken u&#x0364;ber Hu&#x0364;gel heraus und Alpen erhe-<lb/>
ben &#x017F;ich u&#x0364;ber Alpen.</p><lb/>
        <p>Ein vollkommener Richter lie&#x017F;et jedes Werck<lb/>
mit eben dem Gei&#x017F;te, <note place="foot" n="(f)"><hi rendition="#aq">Diligenter legendum est, ac p&#x0153;ne ad &#x017F;cribendi<lb/>
&#x017F;olicitudinem. Nec per partes modo &#x017F;crutanda &#x017F;unt o-<lb/>
mnia, &#x017F;ed perlectus liber utique ex integro re&#x017F;umendus.<lb/>
Quintil.</hi></note> worinnen es der<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;er ge&#x017F;chrieben hat. Er u&#x0364;ber&#x017F;iehet das gan-<lb/>
ze und mu&#x0364;het &#x017F;ich nicht einen geringen Fehler in<lb/>
&#x017F;olchen Stellen zu finden, wo &#x017F;tarcke Triebe uns<lb/>
bewegen und die Entzu&#x0364;ckung uns anfeuert. Er<lb/>
mag um die&#x017F;es bosheitsvollen &#x017F;chlechten Ku&#x0364;tzels<lb/>
willen &#x017F;ich nicht des edlen Vergnu&#x0364;gens berauben,<lb/>
an Gei&#x017F;t und Vernunft &#x017F;ich zu ergo&#x0364;tzen. Aber in<lb/>
einem Liede, worinnen weder Ebbe noch Fluth,<lb/>
worinnen eine regelma&#x0364;&#x017F;&#x017F;ige Ka&#x0364;lte, eine gelehrte<lb/>
Kraftlo&#x017F;igkeit herr&#x017F;chet, welches um nicht zu feh-<lb/>
len bey einerley ruhigem Tone verbleibet, finden<lb/>
wir wohl nichts zu tadeln. Aber wir mo&#x0364;chten<lb/>
daru&#x0364;ber &#x017F;chlafen. Jn gei&#x017F;treichen Schriften,<lb/>
wie in der Natur, i&#x017F;t das, was uns ru&#x0364;hret, nicht<lb/>
die genaue Richtigkeit einzeler Theile. Was wir<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Scho&#x0364;n-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0078] Verſuch von den Eigenſchaften die aufgethuͤrmten Alpen zu beſteigen. Wir laſſen Thaͤler unter uns, und meinen den Himmel ſchon unter den Fuͤſſen zu haben. Es deucht uns, wir haben ihren ewigen Schnee bereits uͤberſtiegen, und die erſten Wolcken und Gebuͤrge ſcheinen uns die letzten. Aber wenn wir dieſe erreichet haben, wie erſchreckt uns nicht der ſtarcke Anwachs un- ſerer Arbeit auf Wegen, die ſich immer verlaͤngern. Eine neue Ferne ermuͤdet unſer wanderndes Auge. Huͤgel blicken uͤber Huͤgel heraus und Alpen erhe- ben ſich uͤber Alpen. Ein vollkommener Richter lieſet jedes Werck mit eben dem Geiſte, (f) worinnen es der Verfaſſer geſchrieben hat. Er uͤberſiehet das gan- ze und muͤhet ſich nicht einen geringen Fehler in ſolchen Stellen zu finden, wo ſtarcke Triebe uns bewegen und die Entzuͤckung uns anfeuert. Er mag um dieſes bosheitsvollen ſchlechten Kuͤtzels willen ſich nicht des edlen Vergnuͤgens berauben, an Geiſt und Vernunft ſich zu ergoͤtzen. Aber in einem Liede, worinnen weder Ebbe noch Fluth, worinnen eine regelmaͤſſige Kaͤlte, eine gelehrte Kraftloſigkeit herrſchet, welches um nicht zu feh- len bey einerley ruhigem Tone verbleibet, finden wir wohl nichts zu tadeln. Aber wir moͤchten daruͤber ſchlafen. Jn geiſtreichen Schriften, wie in der Natur, iſt das, was uns ruͤhret, nicht die genaue Richtigkeit einzeler Theile. Was wir Schoͤn- (f) Diligenter legendum est, ac pœne ad ſcribendi ſolicitudinem. Nec per partes modo ſcrutanda ſunt o- mnia, ſed perlectus liber utique ex integro reſumendus. Quintil.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/78
Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/78>, abgerufen am 25.11.2024.