Unter allen Ursachen, welche der Menschen fehlbares Urtheil verblenden, und den Verstand misleiten, ist keine, die ein schwaches Haupt gewaltsamer beherrschet, als der Hochmuth, ein unausbleiblicher Fehler der Thoren. Was im- mer die Natur an wahrem Werthe versaget, das ersezet sie mit einer Fülle von dürftigem Stolze. Es gehet in den Seelen zu, wie in den Leibern. Wo Blut und Geister fehlen, da strozet es von Winden. Und wo der Witz mangelt, da kommt uns der Hochmuth zu Hülfe, und füllt die gantze vernunftlose Einöde aus. Doch wenn der Ver- stand einmal diese Wolcke verjaget hat, so bricht die Wahrheit herein mit einem unwiderständlichen Lichte. Trauet euch dahero selbsten nicht, son- dern machet euch jeden Freund, ja jeden Feind zu Nuze, um eure Fehler zu erkennen.
Ein seichtes Wissen ist gefährlich. Schöpfet tief aus dem Brunnen der Pierinnen, oder lasset ihn gar ungekostet. Trincken wir nur oben herab, so bringt es den Schwindel ins Gehirne, aber starcke Züge machen uns wider nüchtern. Die Gaben der Musen entzünden uns beym ersten An- blicke so sehr, daß wir in unsrer verwegenen Ju- gend sogleich vermeinen, den Gipfel der Wissen- schaften zu ersteigen. Denn unser beschränckter Gesichtskreis entdecket uns gar zu wenig, und läßt uns die hinter ihm verborgene Weiten nicht erkennen. Aber wenn wir weit er kommen, so sehen wir mit Erstaunen, wie immer neue Schau- plätze unendlicher Wissenschaften sich hinter einan- der entdecken. Eben so fangen wir freudig an,
die
eines Kunſtrichters.
Unter allen Urſachen, welche der Menſchen fehlbares Urtheil verblenden, und den Verſtand misleiten, iſt keine, die ein ſchwaches Haupt gewaltſamer beherrſchet, als der Hochmuth, ein unausbleiblicher Fehler der Thoren. Was im- mer die Natur an wahrem Werthe verſaget, das erſezet ſie mit einer Fuͤlle von duͤrftigem Stolze. Es gehet in den Seelen zu, wie in den Leibern. Wo Blut und Geiſter fehlen, da ſtrozet es von Winden. Und wo der Witz mangelt, da kommt uns der Hochmuth zu Huͤlfe, und fuͤllt die gantze vernunftloſe Einoͤde aus. Doch wenn der Ver- ſtand einmal dieſe Wolcke verjaget hat, ſo bricht die Wahrheit herein mit einem unwiderſtaͤndlichen Lichte. Trauet euch dahero ſelbſten nicht, ſon- dern machet euch jeden Freund, ja jeden Feind zu Nuze, um eure Fehler zu erkennen.
Ein ſeichtes Wiſſen iſt gefaͤhrlich. Schoͤpfet tief aus dem Brunnen der Pierinnen, oder laſſet ihn gar ungekoſtet. Trincken wir nur oben herab, ſo bringt es den Schwindel ins Gehirne, aber ſtarcke Zuͤge machen uns wider nuͤchtern. Die Gaben der Muſen entzuͤnden uns beym erſten An- blicke ſo ſehr, daß wir in unſrer verwegenen Ju- gend ſogleich vermeinen, den Gipfel der Wiſſen- ſchaften zu erſteigen. Denn unſer beſchraͤnckter Geſichtskreis entdecket uns gar zu wenig, und laͤßt uns die hinter ihm verborgene Weiten nicht erkennen. Aber wenn wir weit er kommen, ſo ſehen wir mit Erſtaunen, wie immer neue Schau- plaͤtze unendlicher Wiſſenſchaften ſich hinter einan- der entdecken. Eben ſo fangen wir freudig an,
die
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0077"n="61"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">eines Kunſtrichters.</hi></fw><lb/><p>Unter allen Urſachen, welche der Menſchen<lb/>
fehlbares Urtheil verblenden, und den Verſtand<lb/>
misleiten, iſt keine, die ein ſchwaches Haupt<lb/>
gewaltſamer beherrſchet, als der Hochmuth, ein<lb/>
unausbleiblicher Fehler der Thoren. Was im-<lb/>
mer die Natur an wahrem Werthe verſaget, das<lb/>
erſezet ſie mit einer Fuͤlle von duͤrftigem Stolze.<lb/>
Es gehet in den Seelen zu, wie in den Leibern.<lb/>
Wo Blut und Geiſter fehlen, da ſtrozet es von<lb/>
Winden. Und wo der Witz mangelt, da kommt<lb/>
uns der Hochmuth zu Huͤlfe, und fuͤllt die gantze<lb/>
vernunftloſe Einoͤde aus. Doch wenn der Ver-<lb/>ſtand einmal dieſe Wolcke verjaget hat, ſo bricht<lb/>
die Wahrheit herein mit einem unwiderſtaͤndlichen<lb/>
Lichte. Trauet euch dahero ſelbſten nicht, ſon-<lb/>
dern machet euch jeden Freund, ja jeden Feind<lb/>
zu Nuze, um eure Fehler zu erkennen.</p><lb/><p>Ein ſeichtes Wiſſen iſt gefaͤhrlich. Schoͤpfet<lb/>
tief aus dem Brunnen der Pierinnen, oder laſſet<lb/>
ihn gar ungekoſtet. Trincken wir nur oben herab,<lb/>ſo bringt es den Schwindel ins Gehirne, aber<lb/>ſtarcke Zuͤge machen uns wider nuͤchtern. Die<lb/>
Gaben der Muſen entzuͤnden uns beym erſten An-<lb/>
blicke ſo ſehr, daß wir in unſrer verwegenen Ju-<lb/>
gend ſogleich vermeinen, den Gipfel der Wiſſen-<lb/>ſchaften zu erſteigen. Denn unſer beſchraͤnckter<lb/>
Geſichtskreis entdecket uns gar zu wenig, und<lb/>
laͤßt uns die hinter ihm verborgene Weiten nicht<lb/>
erkennen. Aber wenn wir weit er kommen, ſo<lb/>ſehen wir mit Erſtaunen, wie immer neue Schau-<lb/>
plaͤtze unendlicher Wiſſenſchaften ſich hinter einan-<lb/>
der entdecken. Eben ſo fangen wir freudig an,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">die</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[61/0077]
eines Kunſtrichters.
Unter allen Urſachen, welche der Menſchen
fehlbares Urtheil verblenden, und den Verſtand
misleiten, iſt keine, die ein ſchwaches Haupt
gewaltſamer beherrſchet, als der Hochmuth, ein
unausbleiblicher Fehler der Thoren. Was im-
mer die Natur an wahrem Werthe verſaget, das
erſezet ſie mit einer Fuͤlle von duͤrftigem Stolze.
Es gehet in den Seelen zu, wie in den Leibern.
Wo Blut und Geiſter fehlen, da ſtrozet es von
Winden. Und wo der Witz mangelt, da kommt
uns der Hochmuth zu Huͤlfe, und fuͤllt die gantze
vernunftloſe Einoͤde aus. Doch wenn der Ver-
ſtand einmal dieſe Wolcke verjaget hat, ſo bricht
die Wahrheit herein mit einem unwiderſtaͤndlichen
Lichte. Trauet euch dahero ſelbſten nicht, ſon-
dern machet euch jeden Freund, ja jeden Feind
zu Nuze, um eure Fehler zu erkennen.
Ein ſeichtes Wiſſen iſt gefaͤhrlich. Schoͤpfet
tief aus dem Brunnen der Pierinnen, oder laſſet
ihn gar ungekoſtet. Trincken wir nur oben herab,
ſo bringt es den Schwindel ins Gehirne, aber
ſtarcke Zuͤge machen uns wider nuͤchtern. Die
Gaben der Muſen entzuͤnden uns beym erſten An-
blicke ſo ſehr, daß wir in unſrer verwegenen Ju-
gend ſogleich vermeinen, den Gipfel der Wiſſen-
ſchaften zu erſteigen. Denn unſer beſchraͤnckter
Geſichtskreis entdecket uns gar zu wenig, und
laͤßt uns die hinter ihm verborgene Weiten nicht
erkennen. Aber wenn wir weit er kommen, ſo
ſehen wir mit Erſtaunen, wie immer neue Schau-
plaͤtze unendlicher Wiſſenſchaften ſich hinter einan-
der entdecken. Eben ſo fangen wir freudig an,
die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/77>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.