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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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eines Kunstrichters.
be die darinnen verborgene Seele, wenn sie ihn
mit Kraft und Lebensgeistern erfüllt, wenn sie je-
de Bewegung regieret, jede Nerve unterhält,
und doch selbst nicht sichtbar ist, als in ihren
Wirckungen. Bey manchem, der einen reichen
Vorrath an Witze vom Himmel bekommen, fin-
det sich eben so viel Mangel ihn recht zu verwal-
ten. Denn Witz und Urtheilskraft sind immer
im Zanke, obgleich eines dem andern wie Mann
und Weib zur Hülfe bestimmet ist. Es ist schwe-
rer den Pegasus zu leiten, als anzuspornen, und
seine Hitze zu mässigen, als seinen Lauf zu rei-
zen. Der geflügelte Läufer ist gleich einem edlen
Pferde. Er zeiget niemalen ein schöners Feuer,
als wenn man ihn vernünftig zurückehält.

Alle diese Regeln, welche die alten entdeckt und
nicht selbst ersonnen haben, sind immer die Na-
tur, aber die Natur in richtiger Lehrart. Die
freye Natur gleicht einer Monarchie. Sie wird
allein durch solche Gesetze beschräncket, welche sie
anfangs selbsten gegeben hat.

Höret wie das gelehrte Griechenland uns seine
lehrreiche Regeln eröffnet, wann wir unsern Flug
zurücke halten, wann wir ihm Freyheit geben
sollen. Mich deucht, ich sehe es, wie es uns sei-
ne Söhne auf dem höchsten Gipfel des Parnassus
zeiget, und die schweren Wege andeutet, die sie
betreten hatten. Es hält den unsterblichen Preiß
von ferne in der Luft, und reizet die andern, mit
gleichen Schritten auch dahin aufzusteigen. Es
machte die richtigsten Regeln aus grossen Exem-
peln, und nahm von den trefflichsten Geistern,

was
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eines Kunſtrichters.
be die darinnen verborgene Seele, wenn ſie ihn
mit Kraft und Lebensgeiſtern erfuͤllt, wenn ſie je-
de Bewegung regieret, jede Nerve unterhaͤlt,
und doch ſelbſt nicht ſichtbar iſt, als in ihren
Wirckungen. Bey manchem, der einen reichen
Vorrath an Witze vom Himmel bekommen, fin-
det ſich eben ſo viel Mangel ihn recht zu verwal-
ten. Denn Witz und Urtheilskraft ſind immer
im Zanke, obgleich eines dem andern wie Mann
und Weib zur Huͤlfe beſtimmet iſt. Es iſt ſchwe-
rer den Pegaſus zu leiten, als anzuſpornen, und
ſeine Hitze zu maͤſſigen, als ſeinen Lauf zu rei-
zen. Der gefluͤgelte Laͤufer iſt gleich einem edlen
Pferde. Er zeiget niemalen ein ſchoͤners Feuer,
als wenn man ihn vernuͤnftig zuruͤckehaͤlt.

Alle dieſe Regeln, welche die alten entdeckt und
nicht ſelbſt erſonnen haben, ſind immer die Na-
tur, aber die Natur in richtiger Lehrart. Die
freye Natur gleicht einer Monarchie. Sie wird
allein durch ſolche Geſetze beſchraͤncket, welche ſie
anfangs ſelbſten gegeben hat.

Hoͤret wie das gelehrte Griechenland uns ſeine
lehrreiche Regeln eroͤffnet, wann wir unſern Flug
zuruͤcke halten, wann wir ihm Freyheit geben
ſollen. Mich deucht, ich ſehe es, wie es uns ſei-
ne Soͤhne auf dem hoͤchſten Gipfel des Parnaſſus
zeiget, und die ſchweren Wege andeutet, die ſie
betreten hatten. Es haͤlt den unſterblichen Preiß
von ferne in der Luft, und reizet die andern, mit
gleichen Schritten auch dahin aufzuſteigen. Es
machte die richtigſten Regeln aus groſſen Exem-
peln, und nahm von den trefflichſten Geiſtern,

was
D 4
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[55/0071] eines Kunſtrichters. be die darinnen verborgene Seele, wenn ſie ihn mit Kraft und Lebensgeiſtern erfuͤllt, wenn ſie je- de Bewegung regieret, jede Nerve unterhaͤlt, und doch ſelbſt nicht ſichtbar iſt, als in ihren Wirckungen. Bey manchem, der einen reichen Vorrath an Witze vom Himmel bekommen, fin- det ſich eben ſo viel Mangel ihn recht zu verwal- ten. Denn Witz und Urtheilskraft ſind immer im Zanke, obgleich eines dem andern wie Mann und Weib zur Huͤlfe beſtimmet iſt. Es iſt ſchwe- rer den Pegaſus zu leiten, als anzuſpornen, und ſeine Hitze zu maͤſſigen, als ſeinen Lauf zu rei- zen. Der gefluͤgelte Laͤufer iſt gleich einem edlen Pferde. Er zeiget niemalen ein ſchoͤners Feuer, als wenn man ihn vernuͤnftig zuruͤckehaͤlt. Alle dieſe Regeln, welche die alten entdeckt und nicht ſelbſt erſonnen haben, ſind immer die Na- tur, aber die Natur in richtiger Lehrart. Die freye Natur gleicht einer Monarchie. Sie wird allein durch ſolche Geſetze beſchraͤncket, welche ſie anfangs ſelbſten gegeben hat. Hoͤret wie das gelehrte Griechenland uns ſeine lehrreiche Regeln eroͤffnet, wann wir unſern Flug zuruͤcke halten, wann wir ihm Freyheit geben ſollen. Mich deucht, ich ſehe es, wie es uns ſei- ne Soͤhne auf dem hoͤchſten Gipfel des Parnaſſus zeiget, und die ſchweren Wege andeutet, die ſie betreten hatten. Es haͤlt den unſterblichen Preiß von ferne in der Luft, und reizet die andern, mit gleichen Schritten auch dahin aufzuſteigen. Es machte die richtigſten Regeln aus groſſen Exem- peln, und nahm von den trefflichſten Geiſtern, was D 4

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/71>, abgerufen am 22.11.2024.