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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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Von dem Sinnreichen
uns demnach zu der Untersuchung der noch übrigen
Anmerkungen der Phyllis fortgehen: Jch fahre
also fort und mercke zum andern an/ daß ein
sinnreicher Satz bißweilen nur in einem arti-
gen Vortrage einer sehr leichten Wahrheit/
und gantz gemeinen Gedanckens bestehe.
Das
Sinnreiche erfodert eben keine hohen Gedanken;
aber was ist ein artiger Vortrag? Es wird sich
wol niemand vermessen, uns dieses im Ernste zu er-
klären. Diese wortreiche, aber dabey sinn- und
kraftlose Lehrsäze würden mich bald bereden, daß
Phyllis einen Reifenrok trüge. Doch es kan seyn,
daß ihre dunkle Begriffe aus den beygefügten Exem-
peln ein besser Licht empfangen. Das erste ist eine
Aufschrift aus Hrn. Rathsherrn Brockes vor-
trefflichen Buche, Jrdisches Vergnügen in Gott
betitelt; wovon die lezte Zeile also lautet:

Der Narr lebt arm um reich zu sterben.

Worüber die Jgfr. Phyllis diese Auslegung giebt:
Was ist bekannter/ als daß ein Geitziger des-
wegen Hunger leidet/ weil er gern bis an sein
Ende reich bleiben will: und doch hat Hr. Bro-
kes dieses so schön, lebhaft und neu ausgedrü-
ket, daß es mit unter die sinnreicheste Schreib-
art gehört.
Jch gebe zu, daß der Ausdruck
sinnreich sey; die Ursache dessen ist, weil der Poet
mittelst Vergleichung des Lebens und des Todes
eines Geitzigen diesen sinnreichen Gegensatz her-
ausgebracht, daß er jenes armselig zubringe, da-
mit er, wann es verlohren hat, und izt ohne Em-
pfindung ist, den Nahmen eines reichen bekom-
me, welches die Aufführung eines Harpax recht

lächer-

Von dem Sinnreichen
uns demnach zu der Unterſuchung der noch uͤbrigen
Anmerkungen der Phyllis fortgehen: Jch fahre
alſo fort und mercke zum andern an/ daß ein
ſinnreicher Satz bißweilen nur in einem arti-
gen Vortrage einer ſehr leichten Wahrheit/
und gantz gemeinen Gedanckens beſtehe.
Das
Sinnreiche erfodert eben keine hohen Gedanken;
aber was iſt ein artiger Vortrag? Es wird ſich
wol niemand vermeſſen, uns dieſes im Ernſte zu er-
klaͤren. Dieſe wortreiche, aber dabey ſinn- und
kraftloſe Lehrſaͤze wuͤrden mich bald bereden, daß
Phyllis einen Reifenrok truͤge. Doch es kan ſeyn,
daß ihre dunkle Begriffe aus den beygefuͤgten Exem-
peln ein beſſer Licht empfangen. Das erſte iſt eine
Aufſchrift aus Hrn. Rathsherrn Brockes vor-
trefflichen Buche, Jrdiſches Vergnuͤgen in Gott
betitelt; wovon die lezte Zeile alſo lautet:

Der Narr lebt arm um reich zu ſterben.

Woruͤber die Jgfr. Phyllis dieſe Auslegung giebt:
Was iſt bekannter/ als daß ein Geitziger des-
wegen Hunger leidet/ weil er gern bis an ſein
Ende reich bleiben will: und doch hat Hr. Bro-
kes dieſes ſo ſchoͤn, lebhaft und neu ausgedruͤ-
ket, daß es mit unter die ſinnreicheſte Schreib-
art gehoͤrt.
Jch gebe zu, daß der Ausdruck
ſinnreich ſey; die Urſache deſſen iſt, weil der Poet
mittelſt Vergleichung des Lebens und des Todes
eines Geitzigen dieſen ſinnreichen Gegenſatz her-
ausgebracht, daß er jenes armſelig zubringe, da-
mit er, wann es verlohren hat, und izt ohne Em-
pfindung iſt, den Nahmen eines reichen bekom-
me, welches die Auffuͤhrung eines Harpax recht

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[106/0122] Von dem Sinnreichen uns demnach zu der Unterſuchung der noch uͤbrigen Anmerkungen der Phyllis fortgehen: Jch fahre alſo fort und mercke zum andern an/ daß ein ſinnreicher Satz bißweilen nur in einem arti- gen Vortrage einer ſehr leichten Wahrheit/ und gantz gemeinen Gedanckens beſtehe. Das Sinnreiche erfodert eben keine hohen Gedanken; aber was iſt ein artiger Vortrag? Es wird ſich wol niemand vermeſſen, uns dieſes im Ernſte zu er- klaͤren. Dieſe wortreiche, aber dabey ſinn- und kraftloſe Lehrſaͤze wuͤrden mich bald bereden, daß Phyllis einen Reifenrok truͤge. Doch es kan ſeyn, daß ihre dunkle Begriffe aus den beygefuͤgten Exem- peln ein beſſer Licht empfangen. Das erſte iſt eine Aufſchrift aus Hrn. Rathsherrn Brockes vor- trefflichen Buche, Jrdiſches Vergnuͤgen in Gott betitelt; wovon die lezte Zeile alſo lautet: Der Narr lebt arm um reich zu ſterben. Woruͤber die Jgfr. Phyllis dieſe Auslegung giebt: Was iſt bekannter/ als daß ein Geitziger des- wegen Hunger leidet/ weil er gern bis an ſein Ende reich bleiben will: und doch hat Hr. Bro- kes dieſes ſo ſchoͤn, lebhaft und neu ausgedruͤ- ket, daß es mit unter die ſinnreicheſte Schreib- art gehoͤrt. Jch gebe zu, daß der Ausdruck ſinnreich ſey; die Urſache deſſen iſt, weil der Poet mittelſt Vergleichung des Lebens und des Todes eines Geitzigen dieſen ſinnreichen Gegenſatz her- ausgebracht, daß er jenes armſelig zubringe, da- mit er, wann es verlohren hat, und izt ohne Em- pfindung iſt, den Nahmen eines reichen bekom- me, welches die Auffuͤhrung eines Harpax recht laͤcher-

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/122>, abgerufen am 22.11.2024.