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[Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741.

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und dem Scharfsinnigen

Jn der ersten Zeile steht der Text des Poeten
verfälscht, die ungereimte Einschiebung des Wört-
leins redt, an statt denkt, schwächt und verderbt
den Sinn der gantzen Stelle. Die zweyte Zeile
hat mir den Betrug verrathen, und mich die wah-
re Lection errathen lassen. Ohne Zweifel hat der
Poet mit den dreyen ersten Zeilen auf den bekann-
ten Vers des Horatz gezielet:

Scribendi recte sapere est & principium & fons.
Aber durch den angeregten Wortwechsel wird der
gantze Gedancke des Poeten verderbt.

Jn dem Eingang macht sie folgende Glossen über
diese Stelle des deutschen Poeten: Jn diesen herr-
lichen Worten hat ein fürtrefflicher Staats-
Minister schon zu seiner Zeit den Verfall einer
vernünftigen und regelmässigen Schreibart be-
dauret. - - Diese Stelle handelt überhaupt
von einer guten Schreibart, und wo ich nicht
irre, hält sie nachfolgende Regeln in sich.

1. Ein Scribent muß natürlich schreiben.
2. Er muß vernünftig schreiben. 3. Er muß
in Vergrösserungen und in Verkleinerungen
Maaß halten. Jch sahe zwar, daß diese drey
Hauptregeln einer guten Schreibart so noth-
wendig sind, daß sie auch aus der sinnreichen
Art nicht ausgeschlossen werden können: Al-
lein es schien doch ausser diesen dreyen Stücken
noch was mehrers zu einer sinnreichen Schreib-
art zu gehören.

Jch bin sicher, daß der Poet in diesen Versen
nicht den Verfall der scharfsinnigen Schreibart be-
klaget; sondern die Quelle des Unnatürlichen ent-

decken
und dem Scharfſinnigen

Jn der erſten Zeile ſteht der Text des Poeten
verfaͤlſcht, die ungereimte Einſchiebung des Woͤrt-
leins redt, an ſtatt denkt, ſchwaͤcht und verderbt
den Sinn der gantzen Stelle. Die zweyte Zeile
hat mir den Betrug verrathen, und mich die wah-
re Lection errathen laſſen. Ohne Zweifel hat der
Poet mit den dreyen erſten Zeilen auf den bekann-
ten Vers des Horatz gezielet:

Scribendi recte ſapere eſt & principium & fons.
Aber durch den angeregten Wortwechſel wird der
gantze Gedancke des Poeten verderbt.

Jn dem Eingang macht ſie folgende Gloſſen uͤber
dieſe Stelle des deutſchen Poeten: Jn dieſen herr-
lichen Worten hat ein fuͤrtrefflicher Staats-
Miniſter ſchon zu ſeiner Zeit den Verfall einer
vernuͤnftigen und regelmaͤſſigen Schreibart be-
dauret. ‒ ‒ Dieſe Stelle handelt uͤberhaupt
von einer guten Schreibart, und wo ich nicht
irre, haͤlt ſie nachfolgende Regeln in ſich.

1. Ein Scribent muß natuͤrlich ſchreiben.
2. Er muß vernuͤnftig ſchreiben. 3. Er muß
in Vergroͤſſerungen und in Verkleinerungen
Maaß halten. Jch ſahe zwar, daß dieſe drey
Hauptregeln einer guten Schreibart ſo noth-
wendig ſind, daß ſie auch aus der ſinnreichen
Art nicht ausgeſchloſſen werden koͤnnen: Al-
lein es ſchien doch auſſer dieſen dreyen Stuͤcken
noch was mehrers zu einer ſinnreichen Schreib-
art zu gehoͤren.

Jch bin ſicher, daß der Poet in dieſen Verſen
nicht den Verfall der ſcharfſinnigen Schreibart be-
klaget; ſondern die Quelle des Unnatuͤrlichen ent-

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[95/0111] und dem Scharfſinnigen Jn der erſten Zeile ſteht der Text des Poeten verfaͤlſcht, die ungereimte Einſchiebung des Woͤrt- leins redt, an ſtatt denkt, ſchwaͤcht und verderbt den Sinn der gantzen Stelle. Die zweyte Zeile hat mir den Betrug verrathen, und mich die wah- re Lection errathen laſſen. Ohne Zweifel hat der Poet mit den dreyen erſten Zeilen auf den bekann- ten Vers des Horatz gezielet: Scribendi recte ſapere eſt & principium & fons. Aber durch den angeregten Wortwechſel wird der gantze Gedancke des Poeten verderbt. Jn dem Eingang macht ſie folgende Gloſſen uͤber dieſe Stelle des deutſchen Poeten: Jn dieſen herr- lichen Worten hat ein fuͤrtrefflicher Staats- Miniſter ſchon zu ſeiner Zeit den Verfall einer vernuͤnftigen und regelmaͤſſigen Schreibart be- dauret. ‒ ‒ Dieſe Stelle handelt uͤberhaupt von einer guten Schreibart, und wo ich nicht irre, haͤlt ſie nachfolgende Regeln in ſich. 1. Ein Scribent muß natuͤrlich ſchreiben. 2. Er muß vernuͤnftig ſchreiben. 3. Er muß in Vergroͤſſerungen und in Verkleinerungen Maaß halten. Jch ſahe zwar, daß dieſe drey Hauptregeln einer guten Schreibart ſo noth- wendig ſind, daß ſie auch aus der ſinnreichen Art nicht ausgeſchloſſen werden koͤnnen: Al- lein es ſchien doch auſſer dieſen dreyen Stuͤcken noch was mehrers zu einer ſinnreichen Schreib- art zu gehoͤren. Jch bin ſicher, daß der Poet in dieſen Verſen nicht den Verfall der ſcharfſinnigen Schreibart be- klaget; ſondern die Quelle des Unnatuͤrlichen ent- decken

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Zitationshilfe: [Bodmer, Johann Jacob]: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften. Bd. 1. Zürich, 1741, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bodmer_sammlung01_1741/111>, abgerufen am 24.11.2024.