In demselben Verhältniß, in welchem das Gemeinbewußtsein der Menschheit an Klarheit und Energie zunimmt, wächst auch das Völkerrecht in Inhalt und Geltung, denn das Völkerrecht geht aus dem Rechts- bewußtsein der Menschheit hervor.
Vgl. darüber die Einleitung.
5.
Die civilisirten Nationen sind vorzugsweise berufen und befähigt, das gemeine Rechtsbewußtsein der Menschheit auszubilden, und die civili- sirten Staten voraus verpflichtet, die Forderungen desselben zu erfüllen. Deßhalb sind sie vorzugsweise die Ordner und Vertreter des Völkerrechts.
Das Wesen der Civilisation besteht, wie schon der große Dante erklärt hat, in der harmonischen Ausbildung universeller Menschlichkeit, der Humanität. Das Völkerrecht ist eine der edelsten Früchte der Civilisation, denn es ist seinem Wesen nach eine menschliche Ordnung. Der Anspruch der europäischen und amerikanischen Staten, vor den andern Völkern die Träger und Schirmer des Völkerrechts zu sein, wäre eine eitle Anmaßung, wenn derselbe sich nicht auf die höhere Civilisation jener Staten gründete.
6.
Wenn gleich das heutige Völkerrecht vorerst unter den christlichen Nationen ausgebildet worden ist, und der christlichen Religion vielfältige Anregung zu danken hat, so ist es dennoch nicht an das christliche Be- kenntniß gebunden und nicht auf die christliche Welt beschränkt.
Seine eigentliche Grundlage ist die Menschennatur, sein Ziel ist die menschliche Weltordnung, seine Mittel sind statliche Rechtsmittel, und seine Ausbildung ist das Werk der menschlichen Wissenschaft und Praxis.
Das Völkerrecht verbindet als allgemeines Menschenrecht Christen und Muhammedaner, Brahmanisten und Buddhisten, die Anhänger des Kongfutsü und die Verehrer der Gestirne, die Gläubigen und die Un- gläubigen.
1. Im Gegensatze zu der wissenschaftlichen Begründung und Darstellung des Völkerrechts hatte die "Heilige Allianz" der drei östlichen Mächte (14/26. Sept. 1815) nochmals den Versuch gemacht, dasselbe auf die christliche Religion zu basiren. L'empereur d'Autriche, le Roi de Prusse et l'empereur de Russie -- declarent solennellement que le present acte n'a pour objet que de manifester a la face de l'Univers leur determination inebranlable, de ne prendre pour regle
Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
4.
In demſelben Verhältniß, in welchem das Gemeinbewußtſein der Menſchheit an Klarheit und Energie zunimmt, wächſt auch das Völkerrecht in Inhalt und Geltung, denn das Völkerrecht geht aus dem Rechts- bewußtſein der Menſchheit hervor.
Vgl. darüber die Einleitung.
5.
Die civiliſirten Nationen ſind vorzugsweiſe berufen und befähigt, das gemeine Rechtsbewußtſein der Menſchheit auszubilden, und die civili- ſirten Staten voraus verpflichtet, die Forderungen deſſelben zu erfüllen. Deßhalb ſind ſie vorzugsweiſe die Ordner und Vertreter des Völkerrechts.
Das Weſen der Civiliſation beſteht, wie ſchon der große Dante erklärt hat, in der harmoniſchen Ausbildung univerſeller Menſchlichkeit, der Humanität. Das Völkerrecht iſt eine der edelſten Früchte der Civiliſation, denn es iſt ſeinem Weſen nach eine menſchliche Ordnung. Der Anſpruch der europäiſchen und amerikaniſchen Staten, vor den andern Völkern die Träger und Schirmer des Völkerrechts zu ſein, wäre eine eitle Anmaßung, wenn derſelbe ſich nicht auf die höhere Civiliſation jener Staten gründete.
6.
Wenn gleich das heutige Völkerrecht vorerſt unter den chriſtlichen Nationen ausgebildet worden iſt, und der chriſtlichen Religion vielfältige Anregung zu danken hat, ſo iſt es dennoch nicht an das chriſtliche Be- kenntniß gebunden und nicht auf die chriſtliche Welt beſchränkt.
Seine eigentliche Grundlage iſt die Menſchennatur, ſein Ziel iſt die menſchliche Weltordnung, ſeine Mittel ſind ſtatliche Rechtsmittel, und ſeine Ausbildung iſt das Werk der menſchlichen Wiſſenſchaft und Praxis.
Das Völkerrecht verbindet als allgemeines Menſchenrecht Chriſten und Muhammedaner, Brahmaniſten und Buddhiſten, die Anhänger des Kongfutſü und die Verehrer der Geſtirne, die Gläubigen und die Un- gläubigen.
1. Im Gegenſatze zu der wiſſenſchaftlichen Begründung und Darſtellung des Völkerrechts hatte die „Heilige Allianz“ der drei öſtlichen Mächte (14/26. Sept. 1815) nochmals den Verſuch gemacht, daſſelbe auf die chriſtliche Religion zu baſiren. L’empereur d’Autriche, le Roi de Prusse et l’empereur de Russie — déclarent solennellement que le présent acte n’a pour objet que de manifester à la face de l’Univers leur détermination inébranlable, de ne prendre pour règle
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Begründung. Natur und Gränzen des Völkerrechts.
4.
In demſelben Verhältniß, in welchem das Gemeinbewußtſein der
Menſchheit an Klarheit und Energie zunimmt, wächſt auch das Völkerrecht
in Inhalt und Geltung, denn das Völkerrecht geht aus dem Rechts-
bewußtſein der Menſchheit hervor.
Vgl. darüber die Einleitung.
5.
Die civiliſirten Nationen ſind vorzugsweiſe berufen und befähigt,
das gemeine Rechtsbewußtſein der Menſchheit auszubilden, und die civili-
ſirten Staten voraus verpflichtet, die Forderungen deſſelben zu erfüllen.
Deßhalb ſind ſie vorzugsweiſe die Ordner und Vertreter des Völkerrechts.
Das Weſen der Civiliſation beſteht, wie ſchon der große Dante erklärt hat,
in der harmoniſchen Ausbildung univerſeller Menſchlichkeit, der Humanität. Das
Völkerrecht iſt eine der edelſten Früchte der Civiliſation, denn es iſt ſeinem Weſen
nach eine menſchliche Ordnung. Der Anſpruch der europäiſchen und amerikaniſchen
Staten, vor den andern Völkern die Träger und Schirmer des Völkerrechts zu ſein,
wäre eine eitle Anmaßung, wenn derſelbe ſich nicht auf die höhere Civiliſation jener
Staten gründete.
6.
Wenn gleich das heutige Völkerrecht vorerſt unter den chriſtlichen
Nationen ausgebildet worden iſt, und der chriſtlichen Religion vielfältige
Anregung zu danken hat, ſo iſt es dennoch nicht an das chriſtliche Be-
kenntniß gebunden und nicht auf die chriſtliche Welt beſchränkt.
Seine eigentliche Grundlage iſt die Menſchennatur, ſein Ziel iſt die
menſchliche Weltordnung, ſeine Mittel ſind ſtatliche Rechtsmittel, und ſeine
Ausbildung iſt das Werk der menſchlichen Wiſſenſchaft und Praxis.
Das Völkerrecht verbindet als allgemeines Menſchenrecht Chriſten
und Muhammedaner, Brahmaniſten und Buddhiſten, die Anhänger des
Kongfutſü und die Verehrer der Geſtirne, die Gläubigen und die Un-
gläubigen.
1. Im Gegenſatze zu der wiſſenſchaftlichen Begründung und Darſtellung des
Völkerrechts hatte die „Heilige Allianz“ der drei öſtlichen Mächte (14/26. Sept.
1815) nochmals den Verſuch gemacht, daſſelbe auf die chriſtliche Religion zu baſiren.
L’empereur d’Autriche, le Roi de Prusse et l’empereur de Russie — déclarent
solennellement que le présent acte n’a pour objet que de manifester à la
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/77>, abgerufen am 24.11.2024.
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