geben und trotzdem neutral bleiben. Bloße Meinungen und Meinungs- äußerungen über Recht und Unrecht und über die Gegensätze der Politik sind keine kriegerischen Acte und keine Theilnahme am Krieg. Sie heben das Friedensver- hältniß der Staten nicht auf, so wenig als derartige Urtheile und Aeußerungen von Privatpersonen über Andere schon einen Proceß bedeuten. Wenn aus der Art und Form der Meinungsäußerung eine Beleidigung erkennbar wird, so kann das zum Streite und selbst zum Kriege führen. Aber erst muß diese Folge eintreten. Bis dahin bleibt der Friedenszustand und mit ihm die Neutralität.
754.
Wenn ein Stat nur vorübergehend durch die Person des gemein- samen Herrschers mit einem andern State verbunden ist, so ist es möglich, daß der eine Stat zur Kriegspartei wird und der andere Stat neutral bleibt.
Da jeder von diesen Staten eine Person für sich ist (§ 74), so kann auch der eine Stat im Kriege sein, der andere im Frieden leben. Es war nicht noth- wendig, daß das Kurfürstenthum Hannover in die englischen Kriege verwickelt werde, als die Kurfürsten von Hannover zugleich Könige von England waren, so wenig als früher die Niederlande genöthigt waren, sich an den englischen Kriegen zu bethei- ligen, als ihr Erbstatthalter König von England geworden war. Jeder selbständige Stat entscheidet sich selbständig, ob er den Frieden behalten oder in den Krieg ein- treten wolle.
755.
Es kann auch der Fürst eines States persönlich als Officier im Dienste eines andern kriegführenden States an dem Kriege Theil nehmen und trotzdem die Neutralität des States gewahrt bleiben, dessen Fürst er ist.
Indem er als Officier eines fremden feindlichen States an dem Kriege Theil nimmt, gehört er, wie jeder andere Officier zu dem feindlichen Heere, und erscheint er nicht als Statshaupt, noch handelt er für seinen Stat. Persönlich ist er nun der Kriegsgefangenschaft, aber nicht sein Stat dem Kriege ausgesetzt.
756.
Da die thatsächliche Nichtbetheiligung am Kriege die natürliche Voraussetzung der Neutralität ist, so ist der neutrale Stat, wenn er die
Neuntes Buch.
geben und trotzdem neutral bleiben. Bloße Meinungen und Meinungs- äußerungen über Recht und Unrecht und über die Gegenſätze der Politik ſind keine kriegeriſchen Acte und keine Theilnahme am Krieg. Sie heben das Friedensver- hältniß der Staten nicht auf, ſo wenig als derartige Urtheile und Aeußerungen von Privatperſonen über Andere ſchon einen Proceß bedeuten. Wenn aus der Art und Form der Meinungsäußerung eine Beleidigung erkennbar wird, ſo kann das zum Streite und ſelbſt zum Kriege führen. Aber erſt muß dieſe Folge eintreten. Bis dahin bleibt der Friedenszuſtand und mit ihm die Neutralität.
754.
Wenn ein Stat nur vorübergehend durch die Perſon des gemein- ſamen Herrſchers mit einem andern State verbunden iſt, ſo iſt es möglich, daß der eine Stat zur Kriegspartei wird und der andere Stat neutral bleibt.
Da jeder von dieſen Staten eine Perſon für ſich iſt (§ 74), ſo kann auch der eine Stat im Kriege ſein, der andere im Frieden leben. Es war nicht noth- wendig, daß das Kurfürſtenthum Hannover in die engliſchen Kriege verwickelt werde, als die Kurfürſten von Hannover zugleich Könige von England waren, ſo wenig als früher die Niederlande genöthigt waren, ſich an den engliſchen Kriegen zu bethei- ligen, als ihr Erbſtatthalter König von England geworden war. Jeder ſelbſtändige Stat entſcheidet ſich ſelbſtändig, ob er den Frieden behalten oder in den Krieg ein- treten wolle.
755.
Es kann auch der Fürſt eines States perſönlich als Officier im Dienſte eines andern kriegführenden States an dem Kriege Theil nehmen und trotzdem die Neutralität des States gewahrt bleiben, deſſen Fürſt er iſt.
Indem er als Officier eines fremden feindlichen States an dem Kriege Theil nimmt, gehört er, wie jeder andere Officier zu dem feindlichen Heere, und erſcheint er nicht als Statshaupt, noch handelt er für ſeinen Stat. Perſönlich iſt er nun der Kriegsgefangenſchaft, aber nicht ſein Stat dem Kriege ausgeſetzt.
756.
Da die thatſächliche Nichtbetheiligung am Kriege die natürliche Vorausſetzung der Neutralität iſt, ſo iſt der neutrale Stat, wenn er die
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Neuntes Buch.
geben und trotzdem neutral bleiben. Bloße Meinungen und Meinungs-
äußerungen über Recht und Unrecht und über die Gegenſätze der Politik ſind keine
kriegeriſchen Acte und keine Theilnahme am Krieg. Sie heben das Friedensver-
hältniß der Staten nicht auf, ſo wenig als derartige Urtheile und Aeußerungen von
Privatperſonen über Andere ſchon einen Proceß bedeuten. Wenn aus der Art und
Form der Meinungsäußerung eine Beleidigung erkennbar wird, ſo kann das zum
Streite und ſelbſt zum Kriege führen. Aber erſt muß dieſe Folge eintreten.
Bis dahin bleibt der Friedenszuſtand und mit ihm die Neutralität.
754.
Wenn ein Stat nur vorübergehend durch die Perſon des gemein-
ſamen Herrſchers mit einem andern State verbunden iſt, ſo iſt es möglich,
daß der eine Stat zur Kriegspartei wird und der andere Stat neutral
bleibt.
Da jeder von dieſen Staten eine Perſon für ſich iſt (§ 74), ſo kann auch
der eine Stat im Kriege ſein, der andere im Frieden leben. Es war nicht noth-
wendig, daß das Kurfürſtenthum Hannover in die engliſchen Kriege verwickelt werde,
als die Kurfürſten von Hannover zugleich Könige von England waren, ſo wenig
als früher die Niederlande genöthigt waren, ſich an den engliſchen Kriegen zu bethei-
ligen, als ihr Erbſtatthalter König von England geworden war. Jeder ſelbſtändige
Stat entſcheidet ſich ſelbſtändig, ob er den Frieden behalten oder in den Krieg ein-
treten wolle.
755.
Es kann auch der Fürſt eines States perſönlich als Officier im
Dienſte eines andern kriegführenden States an dem Kriege Theil nehmen
und trotzdem die Neutralität des States gewahrt bleiben, deſſen Fürſt
er iſt.
Indem er als Officier eines fremden feindlichen States an dem Kriege Theil
nimmt, gehört er, wie jeder andere Officier zu dem feindlichen Heere, und erſcheint
er nicht als Statshaupt, noch handelt er für ſeinen Stat. Perſönlich iſt er
nun der Kriegsgefangenſchaft, aber nicht ſein Stat dem Kriege ausgeſetzt.
756.
Da die thatſächliche Nichtbetheiligung am Kriege die natürliche
Vorausſetzung der Neutralität iſt, ſo iſt der neutrale Stat, wenn er die
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/430>, abgerufen am 03.03.2025.
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